Aschenhaut. Ana Marna

Aschenhaut - Ana Marna


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       Darton City, Ohio

      Es herrschte die sogenannte Ruhe vor dem Sturm. Noch war alles still. Nur ein zartes Säuseln hing in der Luft, erzeugt durch hunderte von Stimmen, die wussten, dass sie schweigen sollten, doch dringend etwas loswerden wollten. In wenigen Minuten würde die Hölle losbrechen. Alle wussten es, und die meisten freuten sich bereits darauf.

      Dr. Nathalie Bates zögerte, bevor sie an die Tür klopfte und horchte nach den verhaltenen Geräuschen. Es war lange her, dass sie in diesem Schulgebäude gestanden hatte, doch nichts schien sich geändert zu haben. Nicht die Räumlichkeiten und auch nicht die Atmosphäre. Sie seufzte und drängte die alten Erinnerungen beiseite. Im Laufe der letzten Jahre hatte sie gelernt, wie sie das schaffte, doch manche Orte erschwerten ihr das Vergessen. Und diese Schule war offensichtlich einer davon.

      Sie klopfte an die Tür und wartete auf das „Herein.“

      Als sie den Raum betrat, erhob sich hinter einem schweren metallischen Schreibtisch eine kleine, mollige Person und strahlte sie erfreut an. Ella Ford, die Schuldirektorin der Marble Hills High School eilte hinter dem Tisch hervor und lief mit ausgestreckten Armen auf Nathalie Bates zu.

      „Nathalie, das ist ja wunderbar, dass ich dich endlich einmal wieder zu Gesicht bekomme. Wie lange ist es jetzt schon her? Drei Jahre? Oder vier?“

      „Ich glaube drei“, lächelte Natha lie und umarmte ihre Freundin. „Du siehst gut aus, Ella. Haben die kleinen Plagegeister deine Nerven noch nicht zerstampft?“

      Ella lachte hell auf.

      „Ach Nathalie, das wird nie passieren. Diese Plagegeister können einen zwar ganz schön nerven, doch weitaus öfter bereiten sie einem Freude. Aber du siehst ebenfalls gut aus. Das freut mich. Komm, setz dich. Darf ich dir was anbieten? Einen Kaffee vielleicht?“

      „Gerne.“

      Sie ließ sich auf dem angebotenen Stuhl nieder und sah sich um. Auch in diesem Raum hatte sich nichts geändert. Das eine oder andere Bild war dazugekommen, aber die Farben, die Möbel, ja sogar der Geruch des Raumes versetzte sie einige Jahre zurück.

      Die Schuldirektorin hockte sich wieder hinter den Schreibtisch und nippte an ihrem Kaffee. Aufmerksam betrachtete sie ihr Gegenüber. Nathalie Bates war eine attraktive Frau. Ihre Züge verrieten nicht, dass sie fünfunddreißig Jahre alt war. Doch besonders auffällig waren ihre Haare. Langes silbergraues, fast weißes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht und verlieh ihm eine gewisse Kühle, was von ihren grauen Augen unterstützt wurde. Ella Ford wusste, dass diese silbernen Haare vor vier Jahren noch schwarz gewesen waren, und der Grund für den Farbwechsel verfolgte auch sie in manchen Nächten.

      „Geht es dir wirklich gut?“, fragte sie vorsichtig. Nathalie verlor ihr Lächeln nicht, doch ein leichter Schatten zog durch ihre grauen Augen. Dem geschulten Lehrerauge entging das nicht.

      „Es ist noch nicht vorbei“, stellte sie fest.

      Nathalie zögerte, doch dann schüttelte sie den Kopf.

      „Nein, das wird es wohl nie sein. Doch ich komme zurecht. Immerhin stehe ich jetzt hier, vor dir.“

      „Das hättest du früher nie geschafft“, stimmte Ella zu und lehnte sich zurück. „Gut. Aber glaub mir, es wird noch besser werden. Vielleicht solltest du neue Bekanntschaften suchen, falls du es noch nicht getan hast.“

      Nathalie lachte leise.

      „Ella, du hast dich auf jeden Fall nicht verändert. Was du unter Bekanntschaften verstehst, weiß ich genau. Aber nein, bis jetzt war ich noch nicht auf der Suche, und ich habe auch nicht das Bedürfnis. Außerdem hab ich auch gar keine Zeit dafür.“

      „Du hast die Stelle an der Stanford University bekommen, nicht wahr?“

      Nathalie nickte.

      „Ja, seit zwei Jahren bin ich dort Dozentin für Populationsgenetik und Epigenetik. Außerdem betreue ich mehrere Studien. Zeit ist da eher Mangelware.“

      „Was dir nur recht ist“, vermutete Ella und grinste verschmitzt. „Aber vielleicht hast du ja recht. Für die Uni ist es sicherlich sehr von Vorteil, dass sie eine so begnadete Wissenschaftlerin erwischt haben, die all ihre Zeit der Lehre und Forschung opfert. Doch jetzt erzähl, was hast du die letzten Jahre sonst noch erlebt?“

      Das Gespräch zog sich über zwei Stunden hin. Unterbrochen wurde es nur von dem zwischenzeitlichen Lärmen der Schüler (der gewohnte Sturm nach dem Unterricht), wenigen Telefongespräche und dem Anklopfen einiger Lehrer, die von Ella alle abgewimmelt wurden. Doch schließlich verabschiedeten sich die beiden Frauen voneinander und umarmten sich.

      „Du musst dich auf jeden Fall wieder melden“, verlangte Ella. „Wir können ja mal zusammen essen gehen, oder wir besuchen endlich mal den Flydork Park.“

      Nathalie versprach es. Als sie den Raum verlassen hatte, stand Ella Ford einige Zeit stumm im Raum und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie hatte Nathalie Bates immer bewundert und ein wenig beneidet. Doch das hatte sich vor vier Jahren geändert. Keiner sollte Nathalie Bates beneiden, denn niemandem war der Schicksalsschlag zu wünschen, den diese hochintelligente Frau ereilt hatte.

      Die Korridore der High School waren wie leergefegt. Nur aus den oberen Räumen drangen Klänge von diversen Instrumenten. Offensichtlich probte das Schulorchester noch. Nathalie erinnerte sich an den Anschlag im Eingangsbereich. In zwei Tagen war ein Konzert angesetzt und offensichtlich gab es noch Übungsbedarf.

      Sie lächelte wehmütig. Ihre Tochter Leonie war eine begeisterte Flötenspielerin gewesen. Auch sie war oft länger in dieser Schule geblieben, um bei den Proben dabei zu sein.

      Sie seufzte und schritt dem Ausgang entgegen. Im Eingangsbereich wurde sie langsamer. Auf den unteren Stufen der Treppe, die zu den Obergeschossen führte, hockte eine kleine Gestalt. Zusammengesunken, mit gesenktem Kopf, der die langen blonden Haare fast den Boden berühren ließ.

      Ein Bild des personifizierten Elends.

      Nathalie blieb vor dem Mädchen stehen und betrachtete es. Die Kleine hob nach einiger Zeit den Kopf und sah misstrauisch zu ihr auf. Hinter der blonden Mähne blitzten blaue, hellwache Augen, die aktuell verquollen wirkten, was dem hübschen Gesicht aber nicht schadete.

      „Egal um was es geht“, sagte Nathalie freundlich. „Heulen ist nur für den Moment eine Hilfe. Das Problem geht davon leider nicht weg.“

      Das Mädchen runzelte die Stirn und man sah ihr an, dass Ärger in ihr hochstieg. Jetzt lächelte Nathalie.

      „Gut, ärgern ist besser als weinen. Aber auch das ist nur ein Gefühl. Denk lieber über den Grund nach. Probleme löst man nur, indem man über sie nachdenkt.“

      Das Mädchen starrte sie an.

      „Wer sind Sie? Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Sind sie Lehrerin?“

      Nathalie schüttelte den Kopf.

      „Nein, zumindest nicht an einer Schule. Ich unterrichte an der Stanford University. Darf ich fragen, was dich bedrückt?“

      Das Mädchen zögerte. Doch dann gab es sich einen Ruck.

      „Ich habe gerade einen Mathetest zurückbekommen, und ... na ja ... er ist gelinde gesagt ne echte Katastrophe. Und da die vorherigen Tests auch nicht so toll waren, müsste ich den letzten Test besonders gut hinkriegen, um weiterzukommen. Aber ...“, sie schluckte. „Mathe ist echt nicht meine Stärke. Und wenn ich das Schuljahr hängenbleibe - na ja, mein Dad wird ziemlich sauer sein.“

      „Und wo liegt deine Schwierigkeit mit Mathematik?“

      Das


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