Aschenhaut. Ana Marna

Aschenhaut - Ana Marna


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lese es mir durch und versuche die Aufgaben zu lösen. So wie jeder andere auch.“

      Nathalie hockte sich neben sie auf die Stufen.

      „Gibt es niemanden, mit dem du über Mathe reden kannst?

      „Reden?“ Sie runzelte die Stirn. „Na ja, Mr. Smith, unseren Lehrer. Aber der hat erstens nie Zeit und außerdem erklärt er echt kompliziert.“

      „Hm. Und ein Nachhilfelehrer ist keine Option?“

      „Nicht mehr.“ Das Mädchen seufzte. „Ich hatte schon jede Menge davon und Dad ist nicht bereit, noch mehr Geld dafür auszugeben. Er meint, das wär wohl nicht die richtige Taktik für mich.“

      „Taktik?“ Nathalie musste lachen. „Ist er beim Militär?“

      „Nein, zumindest nicht mehr. Früher schon, aber das ist lange her.“ Sie grinste. „Aber klar, wenn er redet, könnte man das denken. Jedenfalls meint er, ich müsste erstmal die richtige Strategie finden.“

      „Da hat er gar nicht so unrecht. Im Prinzip braucht man fürs Lernen nur die für einen selbst passende Vorgehensweise. Und natürlich den Willen. Ohne Zeit und Interesse läuft nichts.“

      „Mathe interessiert mich aber wirklich nicht.“

      „Warum nicht?“

      „Na, weil es halt kompliziert ist und man so viel denken muss.“

      „Was ist dein Lieblingsfach?“

      „Biologie!“

      Das kam so schnell, dass Nathalie wieder auflachte.

      „Und in dem Fach musst du nicht denken?“

      „Doch schon“, kam die zögerliche Antwort. „Aber da macht es mehr Spaß.“

      Nathalie lächelte.

      „Das kann ich sogar ein Stück weit verstehen. Aber wenn du dich mit Biologie beschäftigst, kommst du an Mathematik nicht vorbei. Alles spielt ineinander. Biologie, Mathematik, Physik, Chemie, je nachdem welche Richtung du einschlägst auch Geologie, Geografie, Soziologie und viele andere Fächer. Entscheidend ist, wie neugierig du bist. Wie zäh du an etwas dranbleibst um es zu verstehen und in Beziehung zu setzen mit dem, was dich wirklich interessiert.“

      Das Mädchen sah sie mit großen Augen an.

      „Sie sind ziemlich klug, nicht wahr?“

      „Oh“, schmunzelte Nathalie. „Es gibt Leute, die das sagen, ja. Aber klug ist ein relativer Begriff. Wie gesagt, deine Neugier ist entscheidend - und die richtige Strategie.“

      „Können Sie mir das beibringen?“

      Nathalie sah in die funkelnden blauen Augen und wieder schlug die Erinnerung zu. Genauso lebhaft und fordernd hatten Leonies Augen ausgesehen, wenn sie etwas erreichen wollte. Sie zögerte. Dieses Mädchen war ihr fremd. Sie wusste nichts über seine Familie, seine Lebenseinstellung. Aber war das wichtig?

      „Wie heißt du eigentlich?“

      „Sophia. Sophia Hunter.“

      „Angenehm Sophia. Mein Name ist Nathalie Bates. Du kannst aber ruhig Nathalie sagen.“

      Sophia grinste hoffnungsvoll.

      „Helfen Sie mir?“

      „Hm, ich werde nicht deine Nachhilfelehrerin sein, wenn du das meinst. Was ich dir anbieten kann, ist eine Strategie zu entwickeln, die dir beim Lernen hilft.“

      Sophia nickte eifrig.

      „Ja, das hab ich schon verstanden.“

      „Gut, das ist ein wichtiger Anfang. Hast du jetzt Zeit?“

      Das Mädchen blickte auf seine Armbanduhr.

      „Ungefähr zwei Stunden. Dann werde ich abgeholt.“

      „Was schwänzt du gerade?“

      Sophia klappte überrascht den Mund auf.

      „Äh, eigentlich hätte ich jetzt Theatergruppe.“

      Sie wurde rot, aber Nathalie ging nicht näher darauf ein, sondern stand auf.

      „Dann lass uns einen Ort suchen, an dem wir ungestört sind.“

      Sie schritt den Weg zurück bis zum Direktorenzimmer. Sophia folgte ihr hastig.

      Als Nathalie klopfte, öffnete sich fast sofort die Tür und Ella Ford sah sie überrascht an. Offensichtlich war sie im Begriff gewesen zu gehen, da sie eine Jacke und ihre Aktentasche trug.

      „Hu, Nathalie, was machst du denn noch hier?“

      „Sorry Ella, aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

      „Na, dann schieß mal los!“

      „Ich brauche für die nächsten zwei Stunden einen Raum.“

      Ella erspähte das Mädchen, das mit staunenden Augen hinter Nathalie stand.

      „Hallo Sophia, ist alles in Ordnung?“

      Das Mädchen nickte hastig.

      „Ja, Direktor Ford.“

      „Schön, nun, dann lass mich mal überlegen.“

      Sie trat in den Raum zurück und blickte auf einen großen Gebäudeplan.

      „Zimmer dreihundertvier müsste frei sein. Sorg bitte nur dafür, dass die Tafel wieder sauber ist.“ Sie zwinkerte Nathalie zu. „Ich weiß, wie du arbeitest.“

      Wenige Minuten später hockten die beiden in dem Klassenraum und Sophia wartete gespannt auf das, was da auf sie zukam.

      Es wurde die interessanteste Lehrstunde ihres Lebens.

      Ein Crash-Kurs in Lernstrategie.

      Rückblick: Juni 2010

       Darton City, Ohio

       Sie stand an der Kreuzung und freute sich. Gleich würden sie hier vorbeikommen und sie abholen. Anschließend wollten sie in den Freizeitpark und den gesamten Nachmittag dort verbringen. Einer der seltenen Tage, an denen sie als komplette Familie unterwegs sein konnten. Da erspähte sie den Chevrolet Van und winkte aufgeregt. Der Wagen hielt auf der gegenüberliegenden Seite und wartete auf Grün. Als er anfuhr, trat sie erwartungsvoll an den Straßenrand. Sie wollte den Verkehr nicht unnötig aufhalten und schnell einsteigen.

       Der LKW war so rasch heran, dass sie ihn kaum erfasste. Donnernd krachte er in die Seite des Vans und schob das schwere Fahrzeug mit einem Kreischen vor sich her, bis er viele Meter weiter den Wagen gegen die nächste Hauswand quetschte und zum Stehen kam.

      Sie starrte fassungslos zu dem qualmenden Blechhaufen, in dem ihre Familie saß. Ein verzweifelter Schrei entrang sich ihrer Brust und sie rannte los. Mit bloßen Händen versuchte sie, die zerquetschten Türen zu öffnen, bis Passanten sie gewaltsam davon abhielten. Unentwegt schrie sie ihre Namen, George, Leonie, Timmi, Mom, Dad, kämpfte gegen die helfenden Hände an und glaubte gleichzeitig innerlich zu vergehen. Niemand konnte in diesem zerstörten Fahrzeug überlebt haben. Niemand! Das hatte sie sofort gewusst, und es zerriss sie, bis nichts mehr da war und eine völlige Leere zurückblieb.

       Als Dr. Nathalie Bates am nächsten Morgen in den Spiegel blickte, waren ihre Haare silbern. Und nichts war mehr wie vorher.

      Freitag, 13. Juni 2014

       Darton City, Ohio

      „Halt! Stopp den Wagen! Sofort!“

      Sophia schlug hektisch auf die Schulter des Fahrers. Aufgeregt hüpfte sie auf der Rückbank auf und nieder.

      „Tom,


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