Aschenhaut. Ana Marna
hatte Sophia schon die Wagentür aufgerissen und sprang hinaus.
„Nathalie“, schrie sie und winkte zur anderen Straßenseite.
Tom fluchte und drehte den Kopf, um zu erkennen, wen Sophia da entdeckt hatte. Wer zum Teufel war Nathalie? Nur kurz erhaschte er einen Blick auf die Frau. Sie war stehengeblieben und beschattete die Augen mit einer Hand, um herüberzusehen. Offensichtlich war sie gejoggt, zumindest deutete ihr grauer Jogging-Anzug darauf hin. Von ihrem Gesicht konnte er nicht viel erkennen, da ihre halblangen Haare vom Wind durcheinandergewirbelt wurden. Tom blinzelte. Waren die Haare wirklich weiß? Nein, er korrigierte sich, eher silbergrau. Auf jeden Fall auffallend hell. Diese Frau kannte er definitiv nicht. Zumindest die Haare wären ihm in Erinnerung geblieben.
Tom sah wieder zu Sophia und zu seinem Entsetzen machte das Mädchen gerade Anstalten über die Straße zu sprinten.
„Sophia, nein“, brüllte er und riss die Tür auf. Doch es war zu spät. Das Mädchen hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Mit wachsender Panik beobachtete er, wie Sophia die stark befahrene Straße überquerte. Zu ihrem Glück war der Verkehr im Moment etwas abgeflaut, aber trotzdem! Tom stieß erleichtert die Luft aus, als sie unbeschadet die andere Straßenseite erreichte. ‚Na warte‘, dachte er grimmig.
‚Dir werde ich sowas von Feuer unterm Hintern machen!‘
Es stimmte ihn auch nicht milde, dass in dem Gesicht der Frau die gleiche Erleichterung, gepaart mit Ärger zu lesen war.
*
„Sophia, bist du von allen guten Geistern verlassen?“
Nathalie zog das Mädchen von der Straße weg auf den Fußweg.
„Das war wirklich gefährlich!“
Sophia strahlte sie unbeeindruckt von der ärgerlichen Stimme an.
„Ich bin so froh, dass ich Sie gesehen habe.“
„Sophia!“ Nathalie setzte ihre strengste Miene auf. Das Mädchen reagierte sofort und senkte den Blick - um ihn gleich darauf zu heben und die Frau mit einem strahlenden Lächeln zu entwaffnen.
„Aber ich bin ehrlich froh. Ich wollte mich doch noch bei Ihnen bedanken.“
Nathalie hob fragend die Augenbrauen.
„Wofür?“
„Ich habe die Mathearbeit mit einem „Good“ bestanden. Achtundachtzig Prozent! Vielen, vielen Dank!“
Nathalie Bates veränderte ihre Miene nicht, obwohl sie innerlich applaudierte.
„Kind, das freut mich natürlich sehr, aber das hast du allein geschafft. Ich war nicht dabei.“
Sophia grinste sie stolz an.
„Klar, aber Sie haben mir das Werkzeug dafür gegeben. Ohne Ihre Tipps wäre ich garantiert durchgerasselt.“
Nathalie schüttelte den Kopf, lächelte jetzt aber doch.
„Mag sein, aber es war trotzdem deine eigene Leistung.“
„Sie hätten das nicht tun müssen. Sie kennen mich ja eigentlich gar nicht.“
Nathalie blickte in die strahlenden Augen und hob die Hand um dem Mädchen sanft über die Wange zu streichen.
„Es war nur ein wenig Zeit für ein trauriges Gesicht und ich bin froh, dass du diese gut genutzt hast. Davon abgesehen hat es mir auch Spaß gemacht. Aber ich glaube, da sorgt sich jemand um Dich.“
Sie wies zur anderen Straßenseite, wo Tom Jordan mit verschränkten Armen stand und finster herübersah.
„Ist das dein Vater?“
Sophia schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist Tom, mein ... äh ... Onkel.“
Nathalie ignorierte das Zögern in ihrer Stimme und nickte nur. Die Geheimnisse dieses Mädchens gingen sie nichts an. Mehr Sorgen machte ihr der zunehmende Verkehr.
Auch Sophia schien auf einmal zu verstehen, in welche Lage sie sich gebracht hatte. Mit wachsender Verzweiflung sah sie von links nach rechts. Doch die vorbeirasenden Autos ließen ihr keine Chance, die Fahrbahn zu überqueren. Ratlos blickte sie zu Tom hinüber, der sichtlich nervöser und ärgerlicher wurde.
Nathalie legte beruhigend die Hand auf Sophias Schulter.
„Bleib ruhig. Hier kannst du nicht über die Straße. Wir gehen zur nächsten Ausfahrt. Dort kann dein Onkel dich wieder aufsammeln.“
Sie winkte Tom zu und deutete dann in Richtung Ausfahrt. Tom nickte und stieg ein. Glücklich sah er immer noch nicht aus.
Während die beiden Frauen in seiner Fahrtrichtung entlang gingen, bemühte er sich, sie nicht aus den Augen zu lassen, indem er langsam auf dem Seitenstreifen fuhr. Innerlich fluchte er vor sich hin. Was hatte sich diese Göre nur dabei gedacht? So wichtig konnte nichts sein, dass man sein Leben dafür aufs Spiel setzte.
Als die Ausfahrt in Sicht kam, gab er Gas.
Nathalie beobachtete, wie er durchstartete, und wies ihrem Schützling den Weg hinab, weg von der Brücke.
Sophia sprang fröhlich vor ihr die Treppe hinunter. Sie folgte etwas langsamer. Es freute sie, dass das Mädchen von ihrem Crash-Kurs profitiert hatte. Solche Erfolgserlebnisse hatte sie leider viel zu selten. Die Studenten, mit denen sie meistens zu tun hatte, fragten in den seltensten Fällen um Rat. Und dann ging es eher um Fachwissen, nicht um Methodik.
Quietschende Reifen rissen sie aus ihren Gedanken, doch es war nicht Toms Wagen, der Sophia den Weg abschnitt.
Ein blauer Transporter hinderte das Mädchen am Weitergehen und zwei Männer sprangen aus dem hinteren Wagenteil. Sie waren dunkel gekleidet, maskiert und zu Nathalies Schrecken mit Maschinenpistolen bewaffnet.
Sophia schrie panisch auf und wirbelte herum, um wieder die Treppe hinaufzulaufen. Doch sie kam nicht weit. Die Männer ergriffen sie und zerrten sie zum Wagen. Sophia kreischte und wehrte sich nach Leibeskräften.
Nathalie überwand ihren ersten Schreck und rannte los.
Gerade als die Männer ihr Opfer in den Wagen stoßen wollten, erreichte sie den Transporter und griff nach einem der Entführer. Dieser drehte sich sofort, um seine Waffe auf sie zu richten, doch er erhielt einen Schwinger gegen sein Kinn, der ihn zurückwarf. Nathalie schrie selbst auf. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Menschen geschlagen, geschweige denn einen Kinnhaken ausgeteilt, und der Schmerz in ihrer Faust war überraschend heftig. Vom eigenen Schwung getragen fiel sie dem Mann hinterher. Ihr Knie erwischte offensichtlich eine empfindliche Stelle und er brach mit einem Aufstöhnen zusammen.
Nathalie trat nach seiner Waffe, so dass sie zur Seite flog und fasste nach der Pistole des anderen. Der dreht sich überrascht um und versuchte die Waffe frei zu bekommen. Sophia nutzte die Chance und trat ihm zwischen die Beine. Auch er sackte zu Boden und dem Mädchen gelang es, sich loszureißen.
„Komm!“ Nathalie packte ihren Arm und rannte los. Das Mädchen stolperte panisch hinterher. Als sie an einem parkenden Auto vorbeikamen, erklangen Schüsse. Nathalie spürte einen Schlag im Rücken, der sie von den Beinen riss.
‚Shit‘, dachte sie nur und robbte sich zur Seite hinter das Auto. Das Mädchen ließ sie dabei nicht los und zerrte es mit in Deckung. Schwer atmend blieben die beiden liegen. Wieder erklangen Schüsse. Nathalie richtete sich langsam in geduckter Haltung auf.
„Bleib liegen“, zischte sie dem Mädchen zu, welches sie aus großen Augen anstarrte. Wage regte sich in ihr der Verdacht, dass sie verletzt war, doch wie schwer und wo, wollte sie lieber nicht wissen. Noch nicht.
„Ich liebe Endorphine! Ihr treuen Gefährten, bleibt bei mir und haltet mich aufrecht“, murmelte sie. Ein Schatten fiel vor das Auto. Nathalie spannte die Muskeln an. Als Sophia aufschrie, hechtete sie vor. Noch im Sprung wurde sie gepackt, herumgewirbelt und krachte voller Wucht gegen den Wagen. Ein Knacken ertönte und gleißender Schmerz jagte