Aschenhaut. Ana Marna
meisten Ehen waren geschieden, Patchwork-Familien schon eine Normalität und Alleinerziehende keine Seltenheit.
Immerhin hatten Sophia und Benedict noch Eltern.
Ob sie den Vater auch noch kennenlernen würde?
Es war später Abend, als Tom Jordan das Zimmer wieder betrat. Als sie ihn nach Asher Hunter fragte, schüttelte er den Kopf.
„Er wohnt nicht hier.“
„Und diese Entführung ist kein Grund für ihn zu kommen?“, fragte sie erstaunt.
„Den Kindern geht es gut und hier auf dem Landsitz sind sie sicher“, kam die trockene Antwort. „Er kommt nur, wenn es absolut notwendig ist.“
Das war heftig. Und seltsam.
„Sophias Mutter hat angedeutet, dass ihm sehr viel an den Kindern liegt“, hakte sie vorsichtig nach. Tom schien mit sich zu ringen, doch schließlich meinte er:
„Er wäre sofort da, wenn Julia es zuließe. Sie will nicht, dass er kommt.“
„Das – tut mir leid. Wissen die Kinder davon?“
Er nickte. Spätestens jetzt war Nathalie klar, dass sie wohl niemals Julia Hunters Freundin werden würde. Wie konnte diese Frau ihren Kindern den Vater entziehen? Das war absolut inakzeptabel. Sie seufzte.
„Und Sie können sie nicht dazu bringen, dass die Kinder ihren Vater öfter sehen können?“
„Ich bin nur geduldet, Dr. Bates. Julia kann mich noch weniger leiden als ihren Mann. Sie akzeptiert meine Anwesenheit nur, weil sie Angst um ihre Kinder hat. – Haben Sie es sich überlegt, ob Sie unserer Bitte nachkommen wollen?“
Nathalie schürzte unbewusst die Lippen.
„Wissen Sie Mr. Jordan, ich lasse mich ungern zu so einer Entscheidung drängen. Anscheinend ist hier bei Ihnen alles ziemlich kompliziert. Mir ist durchaus klar, dass mich das Familienleben der Familie Hunter nichts angeht, aber Sie verlangen von mir etwas Ungesetzliches. Wenn ich mich darauf einlassen soll, brauche ich schon etwas Überzeugenderes als Familienzwistigkeiten.“
Er nickte. „Nennen Sie mich ruhig Tom, Dr. Bates. Und es liegt mir fern, Sie zu etwas zu zwingen. Allerdings hat Asher Hunter angeordnet, dass Sie erst gehen können, wenn diese Angelegenheit geklärt ist.“
Sie blinzelte überrascht. Das klang schon beinahe danach, dass man sie hier gefangen hielt.
„Hm, also ist dieses Zimmer hier eine gemütliche Gefängniszelle?“
Jetzt lachte er, doch sie registrierte, dass seine Augen nicht mitzogen.
„Keine Sorge, Dr. Bates, sie können sich frei bewegen. Aber das Gelände sollten sie tatsächlich nicht verlassen. Noch wissen wir nichts über die Entführer und Sie sind zu schwer verletzt.“
„Das war zwar keine echte Antwort auf meine Frage“, lächelte Nathalie, „aber zumindest haben Sie nicht unrecht. Im Übrigen können Sie mich Nathalie nennen, Tom. Der Dr. ist rein akademisch.“
Jetzt lächelten auch seine Augen und sie konnte sich vorstellen, ihn zu mögen. Doch eine Sache musste sie noch klären.
„Sie haben mir den Arm gebrochen, nicht wahr?“
Diese Frage traf ihn unerwartet und für einen kurzen Augenblick wurde er rot. Nathalie blinzelte. Waren das rote Muster auf seiner Haut gewesen?
Er räusperte sich und wirkte verlegen.
„Das tut mir aufrichtig leid, Dr. Bates – ich meine Nathalie. Sie haben mich angegriffen, weil Sie wohl glaubten, dass ich einer der Entführer war und – ich hab aus einem Reflex heraus gehandelt.“
„Das dachte ich mir schon“, lächelte sie. „Und ich bin Ihnen nicht wirklich böse. Wahrscheinlich muss ich sogar froh sein, dass Sie mir nur den Arm gebrochen haben.“
Wieder flimmerte es kurz rot über seine Haut.
„Wie gesagt, es tut mir sehr leid. Glauben Sie mir, Sophia hat mir schon die Hölle heiß gemacht. Sie war ausgesprochen sauer.“
„Na, dann kann ich mir die Mühe ja sparen“, schmunzelte Nathalie und legte sich in die Kissen zurück. Tom, der neben ihrem Bett gestanden hatte, nickte und wirkte erleichtert.
„Schlafen Sie gut, Nathalie.“
Sie sah ihm mit halbgeschlossenen Augen hinterher. Er war ihr immer noch unheimlich, doch dafür hatte er einige sympathische Züge durchblitzen lassen. Die nächsten Tage würden mit Sicherheit interessant werden.
Sonntag, 15. Juni 2014
Landsitz von Asher Hunter, Ohio
Der nächste Tag gestaltete sich ereignisreicher als Nathalie gedacht hatte.
Morgens erhielt sie zunächst Besuch vom Hausarzt der Familie.
Dr. Hopkins war ein älterer grauhaariger Herr, der recht gutmütig aber durchaus kompetent wirkte. Nathalie erfuhr, dass sie mit ihren Verletzungen einige Wochen zu tun haben würde. Das war nicht überraschend, doch äußerst ärgerlich. Er empfahl ihr zumindest eine Woche Bettruhe und dann regelmäßige, doch vorsichtige Bewegung.
„An Ihrer Stelle würde ich versuchen, so lange wie möglich hier zu bleiben“, lächelte er und zwinkerte ihr zu. „Das Essen ist wirklich gut.“
Nathalie lachte freundlich.
„Mag sein, doch ich habe einen Job und den will ich nicht vernachlässigen.“
„Ich werde Sie auf jeden Fall für die nächsten sechs Wochen krankschreiben“, schlug er vor. „Sie scheinen mir eine vernünftige Frau zu sein. Wenn Sie sich wider meiner Prognose bereits in fünf Wochen fit fühlen, können Sie ja selbst entscheiden, ob Sie die letzte Woche noch zur Erholung nutzen wollen.“
Das klang fair und Nathalie stimmte zu.
Die nächste neue Bekanntschaft ließ nicht lange auf sich warten. Benedict stellte seinen Hauslehrer vor.
Oliver Stewart war ebenfalls ein älterer Herr, dem Nathalie den Lehrer sofort abnahm. Er wirkte etwas verstaubt, sehr gelehrt, sehr autoritär aber nicht unfreundlich. Es sprach für Benedict, dass er diesen alten Knaben als nett empfand. Aber Nathalie vermutete, dass dem Jungen schlicht und ergreifend ein Vergleich fehlte.
Benni Hunter hatte Mr. Stewart anscheinend begeistert erzählt, dass Nathalie ihm strategisches Lernen beibringen würde und das wollte der Mann sich natürlich nicht entgehen lassen.
Mit skeptischer Miene betrachtete er die in seinen Augen junge Frau, die mit dicken Verbänden im Bett lag und irgendwie so gar nicht zu seiner Vorstellung einer Professorin passte.
Nathalie war über seine Anwesenheit zwar nicht begeistert, doch sie konnte ihn schlecht vor die Tür setzen. Immerhin war er Bennis Lehrer und sie nur zu Gast. Doch der Zeitpunkt gefiel ihr nicht.
„Ich habe nichts dagegen, wenn Sie dabei sind“, erklärte sie ihm. „Doch heute möchte ich das Ganze ungern beginnen. Ich fühle mich noch nicht fit genug dafür. Doch soweit ich es verstanden habe, bin ich noch einige Tage hier. Wenn es mir in drei Tagen besser geht, können wir das Ganze gerne angehen.“
Benni war zwar enttäuscht, doch seine Augen hingen mitleidig auf ihren Verbänden.
Also warteten sie die nächsten Tage ab. Langweilen tat sie sich nicht. Vormittags kam Tom vorbei und nachmittags erhielt sie immer wieder Besuch von Benedict. Der Junge hatte seine Schüchternheit schnell überwunden und hing bewundernd an Nathalies Lippen, was ihr beinahe schon unangenehm war. So viel Bewunderung schlug ihr selten entgegen. Die meisten Menschen hielten eher Abstand zu ihr. Einige aus Mitleid, da sie ihre Vergangenheit kannten, andere aus Respekt oder Ablehnung.
Nathalie wusste, dass sie klug war. Vermutlich zurzeit die intelligenteste Person der Stanford University. Und kluge Menschen waren