Der Andere. Reiner W. Netthöfel
„Ich komme aus USA.“ Er schüttelte ungeduldig den Kopf.
„Wo Sie hier wohnen.“, erläuterte er sich selbst.
„Ach so …“
„Sie wohnt in unserem Hotel.“, informierte die junge Frau und Holly lächelte verlegen und etwas beschämt, denn sie wusste ja, dass Montanus einen Konzern leitete und ihr Hotel eher eine Absteige war. Der wiederum brummte etwas in seinen Stoppelbart.
Magnus empfahl Holly noch eine bestimmte Speise und schwieg dann weitgehend, so dass sich die Unterhaltung zwischen den beiden Israelis und Holly abspielte.
„Warum seid ihr hier? Diese Gegend ist doch kein Tourismusmagnet.“, meinte Holly und ließ sich ihren Burger schmecken.
„Och, hier gibt es schon was zu sehen, aber wir sind wegen Magnus hier.“
„Ist er eine Touristenattraktion?“, lachte Holly, der es half, dass Magnus wie abgetaucht war. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und wirkte teilnahmslos. Doch das täuschte. Seine Sinne waren geschärft und er hatte nachzudenken. Außerdem beobachtete er diese junge, attraktive Amerikanerin genau, aber ohne dass sie das merkte.
„Nein, wir haben es doch schon gestern erklärt.“
„Muss ich wohl nicht mitbekommen haben. Ihr wisst schon, der Flug und alles …“, zwinkerte sie.
„Ja, vor allem das letzte.“, lachte die Frau, die sich als Esther vorgestellt hatte.
„Wir sind Juden … und unsere Großmutter war auch eine Jüdin, ist ja klar.“, erklärte Benjamin, „Magnus‘ Großvater hat sie vor dem sicheren Tod in einem KZ bewahrt und sie jahrelang versteckt gehalten. Nun ist sie gestorben und hat uns gebeten, dem Enkel ihres Retters einen Brief zu bringen.“ Holly hatte genau zugehört und mit dem Kauen aufgehört. Sie warf einen Seitenblick auf Magnus, der abwesend schien. Sie hatte davon gehört, dass es Deutsche gegeben hatte, die Juden gerettet hatten. Schindler hieß einer von ihnen, sie hatte den Film gesehen. Ein Vorfahr dieses Montanus rettete eine Jüdin, ein anderer, so ihre Vermutung, rettete zwei Sklaven. An die These ihrer Familie wollte sie gar nicht denken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass schon wieder ein frisches Bier vor ihr stand, doch sie trank einen großen Schluck; sie hatte Durst und das Bier schmeckte. Es hatte jedoch auch den Nachteil, alkoholisch zu sein, und nach dem Exzess von gestern und bei ihrem leeren, sich jetzt erst füllenden Magen, blieb es nicht aus, dass sie sich betrunken fühlte.
Kurz danach wollten die beiden Israelis ins Hotel, da sie morgen früh abreisten.
„Ich bringe euch eben hin, wollen Sie auch mit?“, fragte Magnus, der wieder unter den Lebenden zu weilen schien. Nach dem dritten Bier war Holly alles egal.
Vor dem kümmerlichen Hotel verabschiedete sich Magnus von dem Geschwisterpaar, indem er es in die Arme schloss und so eine ganze Weile dastand.
„Vergesst Ruth nicht. Vergesst es nicht. Vergesst nicht, was geschehen ist. Ich habe versagt.“, flüsterte er.
Dann ließ er sie los und stieg ohne ein weiteres Wort in sein Auto, um davonzufahren.
„Warum hat er gesagt, dass er versagt hat?“, wollte Esther irritiert wissen.
„Ich weiß es nicht.“, antwortete Benjamin. „Aber hast du das auch gespürt?“
„Was meinst du?“
„Als er uns in seinen Armen hielt. Es war ein eigenartiges Gefühl.“ Sich dachte kurz nach und nickte. „Als wenn einen etwas durchströmt.“
Holly erwachte am Morgen frisch und ausgeruht. Das Zimmer war zwar nicht größer als gestern, die Luft genauso stickig, aber sie hatte keinen Kater und sie hatte eines erreicht: sie hatte einen ersten Schritt getan. Zwar war es Zufall gewesen, Magnus Montanus zu treffen, aber es war passiert und heute würde sie mit ihm sprechen. Sie nahm sich vor, sich gut vorzubereiten und stand auf, um in ihr ein-Quadratmeter-Bad zu gehen, als sie vor der Tür auf dem Boden einen Zettel bemerkte, den sie aufhob und las.
Bye, Holly. Nett, dich kennengelernt zu haben. Grüße Magnus noch mal von uns. Er ist sehr speziell. Esther und Benjamin
Ja, da hatten sie wohl recht. Speziell schien er zu sein. Sein Großvater hatte eine Jüdin vor den Nazis versteckt und sein … Urururgroßvater zwei Sklaven befreit. Solche Taten der Altvorderen verpflichteten natürlich. Sie würde ihn mal fragen, was er selbst schon für Heldentaten vollbracht hatte. Oder war er es gewesen, wie Onkel Dick der Familie eingeredet hatte? Onkel Dick, eigentlich Großonkel Dick, der in den 60ern begonnen hatte, sich für die Familiengeschichte zu interessieren und fast sein Geschäft ruiniert hätte, weil er nichts anderes tat, als in der Gegend herumzufahren und Verwandte zu besuchen, um ihnen Informationen oder schriftliche Belege zu entlocken, die er dann behandelte wie Reliquien.
Nach dem Frühstück ging Holly an die Luft. Sie hatte gestern, auf dem Rückweg von Montanus ein nettes Fleckchen entdeckt, wo sie sich niederlassen und sich vorbereiten wollte. Bekleidet mit einem bunten Rock und einem Shirt mit Spaghettiträgern, saß sie nun auf einer Bank, hinter sich einen plätschernden Bach und vor sich die Felder, und schlug die Mappe auf.
Sarah Montanus hatte ihrer Enkeltochter den Mann, dessen Namen sie und ihr Mann angenommen hatten, genau beschrieben. Die Enkelin hatte mehrere Porträts angefertigt. Die Enkelin war eine gute Zeichnerin, sie wurde als Erwachsene die erste schwarze Polizeizeichnerin im Staate New York, worauf die Familie noch heute stolz war. Die Bilder zeigten einen Mann Anfang bis Mitte vierzig, mit nackenlangen, grauen Haaren und einem grauen, recht kurzen Bart. Die Nase war etwas lang, die Augenbrauen wiesen darauf hin, dass sie im Alter buschig werden wollten. Wenn man sich die Frisur und den Bart kürzer vorstellte, war die Ähnlichkeit mit dem Magnus Montanus von heute frappierend.
Die verwackelte Schwarzweißaufnahme aus den Zwanzigern, die Burt und Edna mit ihrem ersten weißen Gast zeigte, war kaum zu gebrauchen, aber die beiden hatten Stein und Bein geschworen, dass das der Mann gewesen war, den Maddy gezeichnet hatte.
28. August 1963, Washington DC. Er war einer von 250.000 Demonstranten, die Martin Luther King hören wollten. Am Rande der Demonstration versuchte ein Weißer, schwarze Demonstranten zu erschießen, was ihm aber nicht gelang, weil ihm ein anderer Weißer die Waffe entreißen konnte. Dieser andere Weiße war Montanus. Patty, die spätere Frau von Großonkel Dick, hätte genau in der Schusslinie gestanden und verdankte ihm somit ihr Leben. Sie hatte nie erzählt, was tatsächlich passiert war, obwohl sie unmittelbar dabei gestanden hatte. Ein anderer Demonstrant hatte die Szene fotografiert, bei der Montanus dem Verrückten die Waffe entwand. Es war möglich, dass er verletzt worden war, aber auch dazu schwieg sich Patty aus. Dennoch war deutlich ein dunkler Fleck auf Montanus‘ Hemd zu erkennen. Er hatte die gleichen grauen Haare wie hundert Jahre zuvor, nur waren sie etwas länger, und den gleichen Bart. Holly lachte.
Tennessee, zweiundzwanzig Jahre später, das Jahr, in dem sie geboren wurde. Abraham Montanus, der vierzehnjährige Sohn von Eleanore und Lyndon Montanus, wurde vom Klan entführt. Sie banden ihn mit dem Bauch voran an ein Holzkreuz und wollten ihn auspeitschen; anschließend wollten sie ihn mit dem brennenden Kreuz auf einem öffentlichen Platz aufstellen. Wahrscheinlich wäre er an den Verletzungen und Verbrennungen gestorben. Magnus Montanus, der geschäftlich in der Gegend zu tun hatte und von den Namensvettern gehört hatte, die er an diesem Tag kurz besuchen wollte, um zu erkunden, woher die Namensgleichheit kam, erfuhr von der Entführung und machte sich mit Lyndon und ein paar anderen Männer auf die Suche, weil die Polizei davon ausging, dass Abraham einfach von zu Hause ausgebüxt war. Da Lyndon die geheimen Treffpunkte des Klans in der Gegend kannte, fanden sie sie schnell. In dem Augenblick, in dem ein Kapuzenmann die Bullenpeitsche erhob, um den ersten Schlag zu tun, schoss Montanus die Peitsche am Schaft entzwei, die Prügel fielen aus. Als er dann noch einigen die Zipfel von den Kapuzen schoss, war der ganze Zauber vorbei. Mehrere Fotos zeigen ihn mit der glücklichen Familie. Im Grunde sah er genauso aus, wie der Magnus aus dem Jahre 1963.
Daneben gab es noch einige Berichte ohne Fotos. Ein schwarzer GI aus der Familie