Der Andere. Reiner W. Netthöfel

Der Andere - Reiner W. Netthöfel


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gut war. Sie goss ihr Glas erneut voll, wobei sie etwas von dem Wein verschüttete.

      „Ihr Problem.“, gab er zurück.

      „Mein Problem?“, schrie sie.

      „Sicher.“

      „Ich denke, Sie haben ein Problem.“ Montanus lehnte sich entspannt zurück.

      „Das müssten Sie mir dann mal erklären.“, erklärte er herausfordernd.

      Dann stand er auf und ging mit einem Kopfnicken, das sie überheblich fand, mit dem Geschirr hinein.

      „Mist.“, befand sie. Etwas hatte sie falsch gemacht. Entschlossen stand sie auf und folgte ihm.

      Sie fand ihn in der Küche. Er räumte gerade das Geschirr in die Spülmaschine und sah sie aus einer gebückten Haltung an. Sie erschrak, denn einen solchen Gesichtsausdruck hatte sie noch nie gesehen. Auch bei ihrer Tochter nicht. Es lag einerseits eine unendliche Traurigkeit darin, die fast schon schmerzvoll zu sein schien. Andererseits drückte er auch eine starke Entschlossenheit aus, einen unbedingten Willen. Die dritte Facette kannte sie allerdings von ihrer Tochter; es war der Ausdruck von Wissen. Holly lehnte am Türrahmen und sagte: „Es tut mir leid.“ Montanus richtete sich auf und sah sie an. Sein Blick war jetzt anders. Eisig. Undurchschaubar. Abweisend. Er zeigte drohend mit dem Finger auf sie.

      „Sie kommen hierher, um mir schöne Geschichten zu erzählen. Gut. Interessant, dass unsere Familien in der Vergangenheit – und auch heute – einige Berührungspunkte hatten und haben. Prima, dass meine Vorfahren Ihren Vorfahren hier und da mal behilflich gewesen waren. Das ehrt sie und mich. Dass meine männlichen Vorfahren so aussahen, wie ich aussehe, ist ein Fakt und dafür kann ich nichts. Es ist eben so. Es gibt keine Veranlassung, mir das vorzuwerfen, oder ein Problem daraus zu machen.“

      „Deshalb habe ich mich ja entschuldigt. Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, dass diese Ähnlichkeit eigentlich unmöglich ist?“ Montanus lachte gekünstelt.

      „Es ist manchmal lästig, für seinen eigenen Großvater gehalten zu werden.“

      „Onkel Dick meint, es gibt nur einen Magnus Montanus und es gab nur einen Magnus Montanus.“ Montanus lachte nicht.

      „Natürlich gibt es mich nur ein Mal, und meinen Großvater gab es auch nur ein Mal.“

      Holly schüttelte ungeduldig den Kopf.

      „Er meint, dass Sie ihr Großvater sind.“ Er lachte einmal kurz.

      „Bitte?“ Sie schüttelte den Kopf heftig.

      „Nein, natürlich nicht, sondern dass Ihr Großvater und Sie eine Person sind.“

      „Aha.“ Er bückte sich wieder und fuhr fort, Geschirr einzuräumen.

      „Dass Sie damals Tom und Sarah gekauft und freigelassen haben.“ Er erhob sich wieder und sah sie an.

      „Sehe ich aus, als sei ich … über einhundertfünfzig Jahre alt?“

      „Nein.“

      „Danke.“ Er wollte sich wieder bücken.

      „Er meint, Sie sind unsterblich.“, verhinderte sie dies.

      „Machen Sie sich nicht lächerlich.“, rief er unwillig und aufrecht.

      „Es ist Onkel Dicks Meinung.“, distanzierte sie sich.

      „Ist Ihr Onkel Dick gesund?“, erkundigte er sich, scheinbar besorgt und tippte sich mit dem Finger an den Kopf. Holly trank aus ihrem mitgebrachten Glas und wurde wütend. Diese Temperamentsschwankungen hatte sie von ihrer Mutter.

      „Danke, es geht ihm gut.“, antwortete sie schneidend.

      „Ich meine, weiß er, was er da denkt?“ Der Finger fuhr wieder an die Stirn.

      „Ein großer Teil meiner Familie denkt so.“, antwortete sie trotzig und trank Wein.

      „Dann sollte die ganze Familie mal zum Arzt.“, riet er.

      „Beleidigen Sie meine Familie nicht.“, schrie sie ihn an.

      „Sie sind irre.“ Es war nicht ganz klar, ob er Holly meinte, oder ihre gesamte Sippschaft, aber Holly sah rot. Sie stellte ihr Glas ab, ergriff ein kleines Küchenmesser, das auf der Anrichte lag und stieß es ihm knapp unterhalb des Schulteransatzes in die Brust. Sein Gesicht verzerrte sich, was aber eher an der Überraschung als an einem Schmerzempfinden zu liegen schien. Fast gleichzeitig schlug Holly mit schreckgeweiteten Augen die Hände vor den Mund. Montanus sah sich scheinbar unbeteiligt den Messergriff an, ergriff diesen dann und zog es aus seinem Körper. Blut sickerte aus der Wunde, als er es herausgezogen hatte. Er warf das Messer in die Spüle und sah Holly an. In seinem Blick war keinerlei Vorwurf, sie sah nur wieder diese unendliche Tiefe, dann rannte er entschlossen aus dem Raum. Holly streckte die Hände nach ihm aus, aber er war schon auf der Treppe.

      „Was habe ich getan?“, flüsterte die junge Frau entsetzt und Tränen liefen über ihr hübsches Gesicht, das ein einziger Ausdruck von Erschrecken über die eigene Tat war. Sie stützte sich zitternd auf der Arbeitsplatte ab und ließ den Kopf hängen. Von oben hörte sie Türenschlagen und dann Wasser laufen. Sie weinte still vor sich hin und war geneigt, dem Alkohol die Schuld für ihre Tat zuzuschreiben, doch die war nicht entschuldbar. Auch nicht durch Alkohol. Ich muss ihm helfen, dachte sie, wenigstens das. Mit weichen Knien machte sie sich auf den Weg.

      Jetzt war alles aus. Vielleicht lag er oben und starb. Vielleicht rief er die Polizei. Niemals würde sie von ihm noch eine klitzekleine Information erhalten. Und das andere … Sie war bereit gewesen, den Gedanken zuzulassen, dass sie ein wenig in ihn verliebt war. Vorbei. Aus.

      Oben konnte sie ihn nirgendwo entdecken, wahrscheinlich war er im Bad. Sie rief zaghaft nach ihm, erhielt aber keine Antwort.

      „Herr Montanus. Bitte. Es tut mir leid. Kann ich Ihnen helfen? Wo sind sie? Bitte.“ Sie irrte umher. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Warum nur hatte sie das getan? Sie wischte sich mit den Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

      Eine Tür stand offen. Offenbar sein Arbeitszimmer. Sein Schreibtisch. Bücher über Bücher. Zum großen Teil uralt. In allen Sprachen. Auf dem Schreibtisch das gerahmte Foto einer Frau. Einer sehr schönen Frau. Holly nahm es in die Hand. Lange, glatte, schwarze Haare, schwarze Augen, dunkler Teint. Der Blick melancholisch.

      „Das ist Tanja.“, ertönte es sonor von der Tür. Holly drehte sich erschrocken um und ließ fast das Bild fallen, was er mit einem strengen Blick quittierte. Er knöpfte sich gerade ein sauberes Hemd zu. Auf seiner Brust klebte ein kleines Pflaster. Das Messer hatte fast bis zum Heft in seinem Körper gesteckt. Sein Gesichtsausdruck war seltsam. Jedenfalls passte er nicht zu dem gerade Geschehenen.

      Wie in Trance stellte Holly das Bild wieder ab und zeigte mit dem Finger auf Montanus. Ihr Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Karpfen. Zaghaft trat sie auf ihn zu.

      „Es tut mir leid. Bitte verzeihen Sie mir.“, krächzte sie. Er machte eine wegwerfende Geste.

      „Ist nur ein Kratzer.“ Sie sah ihn verwirrt an, denn er sah fast belustigt aus. Kein Vorwurf, keine Strafpredigt, nichts, was sie erwartet hätte.

      „Ich wollte das nicht. Ich hätte Sie töten können.“ Hättest du nicht, dachte er.

      „Es ist, wie gesagt, nur ein Kratzer.“ Sie ging auf ihn zu.

      „Das kann nicht sein. Das kann doch nicht sein.“, flüsterte sie. Zaghaft berührte sie die Stelle, wo sie das Messer hineingestoßen hatte.

      „Fangen Sie schon wieder an?“, schmunzelte er. Sie verstand nichts mehr. Sie hatte ihn provoziert, indem sie ihn mit Dicks abstrusen Ideen konfrontierte, die sie selbst für falsch hielt, sie hatte ihn angegriffen und schwer verletzt, und jetzt tat er das als Lappalie ab und scherzte. Er fasste sie sanft am Arm.

      „Kommen Sie, ich erzähle Ihnen von Tanja.“ Er führte sie hinunter, nicht sie ihn. Obwohl er doch verletzt


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