Der Andere. Reiner W. Netthöfel
Montanus wollte mehr über Sarahs Nachkommen erfahren. Vielleicht wollte er sie sogar kennenlernen. Auf jeden Fall wollte er aber versuchen, die Kontrolle über einen Prozess zu erhalten, der eine Phase erreicht hatte, in der er ihm gefährlich werden könnte.
7.
Er hatte gestern teilweise so unnahbar gewirkt, und jetzt fragte er nach ihrer Familie, die schließlich für das alles verantwortlich war. Sie wurde nicht schlau aus ihm. Aber wenn er wollte. Und außerdem hatte sie ja wohl allen Grund, seinen Wünschen zu entsprechen. Sie entschuldigte sich, um im Haus zu verschwinden.
Magnus wartete nicht gespannt auf ihre Rückkehr, sondern räumte den Frühstückstisch ab, um Insekten jedwelcher Art von übertriebener Nahrungsaufnahme und hierbei bekanntermaßen vorkommenden Störungen menschlichen Zusammenseins und Kommunikation abzuhalten. Da jedoch das Abräumen von Frühstückstischen gemeinhin eine eher sinnentleerte Tätigkeit ist, gingen ihm dabei zwei Gedanken vakuumfüllend durch den Kopf.
Dieser Dick, so dachte er einerseits, schien ein gewitzter und hartnäckiger Bursche zu sein, was allein ein Grund sein könnte, ihn kennenzulernen. Außerdem handelte es sich immerhin um Sarahs Nachkommen.
Andererseits bewegte ihn ein viel grundsätzlicherer Gedanke. Wollte er es wirklich aufhalten?
Konnte er es? Beide Fragen konnte er nicht mit ausreichender Sicherheit beantworten. Wollte er sich weiter verstecken, wie all die Jahrhunderte zuvor? Er dachte an die viel zu kurze glückliche Phase seines Lebens, als er mit einer Frau zusammengelebt hatte.
„Nun, da ist zunächst meine Tochter Stefania.“ Holly war mit einem Foto zurückgekommen. Die Tochter war ihr also besonders wichtig.
„Wie alt?“, stellte er die naheliegende Routinefrage und setzte sich wieder.
„Stefania ist fünf.“ Zumindest ihr Blick sagte aber mehr als diese lapidare Information.
„Aha.“ Holly hielt Magnus nämlich stolz lächelnd und einen Kommentar herausfordernd ein Foto hin, das sie liebevoll, er erst flüchtig ansah, dann in seine Hand nahm und genauer betrachtete.
„Stefania ist ein besonderes Kind.“, bemerkte sie mit dem Stolz der Mutter.
„Jedes Kind ist wunderbar.“, sagte er mechanisch und nur scheinbar relativierend, denn seine Aufmerksamkeit war ganz auf das Foto konzentriert. Ihn sah ein kleines Mädchen mit drahtigen, eigenartig um den Kopf herumdrapierten, dunkelbraunen Haaren an. Kaum etwas erinnerte daran, dass ihre Urgroßeltern mütterlicherseits afroamerikanisch gewesen waren. Das Gesicht war rund, die Augen braun und das Lachen lückenhaft. Die Nase war etwas zu lang. Wenn er Vergleichsmöglichkeiten gehabt hätte, wäre ihm eine Erkenntnis sicher schon jetzt gekommen, doch von ihm gab es keine Kinderfotos. Nachdenklich reichte er das Bild zurück.
„Sie … sie ist anders. Sie sieht Dinge.“, behauptete sein Gast verschämt. Monty zündete sich eine Zigarette an und legte das Feuerzeug zurück auf den Tisch.
„Was meinen Sie damit?“ Holly zuckte die Schultern.
„Ich weiß nicht recht. Sie kann Dinge voraussehen, ahnen. Manchmal ist es so, als könnte sie den Menschen hinter die Schädeldecke schauen, erraten, was sie denken.“, sagte sie leichthin.
„Interessant.“, meinte er nachdenklich. Holly wechselte das Thema.
„Dann lebt meine Mutter und mein Großvater, ihr Vater, noch mit uns in einem Haus.“
„Und die anderen?“ Schließlich hatte sie den Eindruck erweckt, als handele es sich bei ihrer Familie fast um eine Sippe.
„Oh, Dick und Patty wohnen nicht weit und Abraham und Familie lebt nach wie vor in Tennessee. Der Kontakt zu den anderen ist nicht sehr intensiv. – Mr. Montanus?“
„Nennen Sie mich Magnus.“, bot er an.
„Okay, ich bin Holly.“, lächelte sie und wurde ein wenig rot.
„Was kann ich für dich tun, Holly?“, fragte Magnus freundlich.
„Ich bin gestern mit einem Messer auf dich losgegangen.“ Diese Geschichte ließ sie offenbar nicht los.
„Ich weiß.“, meinte er und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
„Nachdem ich dir die Zeit gestohlen hatte.“
„Davon habe ich genug.“
„Jetzt wohne ich bei dir.“
„Ja.“
„Ich könnte verstehen, wenn du mich verprügelt hättest, wenn du die Polizei geholt hättest; das hier verstehe ich nicht.“ Sie lächelte verschämt. Magnus sah sie an und musste an Sarah denken.
„Ich habe noch nie eine Frau verprügelt.“, erwiderte er ernst. „ Das Aufeinandertreffen unserer Familien in den letzten hundertfünfzig Jahren ist doch sehr ungewöhnlich, nicht wahr? Jedenfalls gibt mir das zu denken. Das kann möglicherweise kein Zufall sein.“, meinte er hintergründig. Natürlich war es kein Zufall, und wer, wenn nicht er, wusste das.
„Du meinst, es war so eine Art göttliche Fügung?“ Er antwortete nicht.
„Was ich nicht verstehe, ist, dass du diese Dinge nicht wusstest.“, bemerkte sie.
„Wir machen nicht gerne Aufhebens um solche Dinge.“
„Wir?“
„Meine Familie.“
„Über die Geschehnisse eures Unternehmens wird aber detailreich berichtet, zum Beispiel in der Firmenchronik.“
„Das ist ja auch von öffentlichem Interesse.“
„Ist Tanja deine Großmutter?“, wechselte Holly das Thema mit dem Ergebnis, dass sie Magnus durchdringend ansah.
„Nein, Großmutter war schon tot zu der Zeit.“ Er musste noch nicht einmal lügen.
„Kanntest du Tanja?“
„Ich habe keine Erinnerungen, ich war zu jung. – Wer kümmert sich denn bei euch um die Familienchronik?“, lenkte er schnell ab.
„Onkel Dick. Er fing damit an, nachdem der Attentatsversuch in Washington passiert war, bei dem Patty das Glück hatte, dass dein Großvater dabei war. Damals trug King dazu bei, dass die Schwarzen selbstbewusster wurden, und Dick forschte eben nach. Er fand eine Art Tagebuch von Sarah Montanus auf dem Speicher und einen Packen Briefe.“ Magnus horchte auf. „Aber die Briefe waren von Mäusen zerfressen, außerdem war das Papier so alt, dass es förmlich zu Staub zerfiel, wenn man es anfasste; ich glaube, er hat nicht herausfinden können, von wem die Briefe waren.“ Magnus atmete auf. „Auf jeden Fall war das für Dick der Anfang. Er ist ein richtiger Hobbyforscher geworden. Na ja.“ Sie senkte den Blick auf die Tischplatte. „Ein Wissenschaftler ist er natürlich nicht, deshalb ja diese Theorie über deine Unsterblichkeit.“
„Ach.“, meinte er leichthin, „Wenn man der festen Überzeugung ist, dass es nicht sein kann, dass Aussehen sich über Generationen nicht verändert, dann bleibt das ja fast als einzige Möglichkeit.“, spielte er Risiko.
„Er hätte dennoch einfach mal überlegen sollen, schließlich haben du und dein Vater und dein Großvater jahrzehntelang eine Firma geleitet; da wäre doch etwas aufgefallen.“ Da hast du recht, dachte Magnus. Das war ein formidables Versteckspiel gewesen über all die Jahrhunderte. Die Kunst bestand einfach darin, sich so wenig wie möglich sehen zu lassen und Verantwortung zu delegieren, was er über die Generationen beinahe zur Perfektion gebracht hatte. Ließ er sich alle paar Jahre in der Zentrale sehen, oder besuchte eine Produktionsstätte oder Verkaufsstelle, oder traf sich mit Entscheidungsträgern, war die Tatsache, dass er da war, das entscheidende Ereignis, nicht, wie er da war. In früheren Epochen half die anerzogene Autoritätsgläubigkeit der meisten Menschen, die Nachfragen nahezu ausschloss. Dennoch war es ein riskantes Spiel gewesen über all die Zeit.
All dies konnte Holly nicht wissen, obwohl sie sicher, durch