Der Andere. Reiner W. Netthöfel

Der Andere - Reiner W. Netthöfel


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als sei diese Erklärung evident.

      „Was siehst du genau?“ Sie sieht Dinge, hatte Holly gesagt. Was bedeutete das? Konnte sie Gedanken lesen? Was, wenn sie die Wahrheit gesehen hatte? Sie war ein Kind. Würde man ihr glauben, wenn sie es erzählte? Würde sie es erzählen? Er würde ihr nichts antun können, das wusste er bestimmt.

      „Schwer zu sagen. Wenn wenig da ist, kann ich einzelne Dinge erkennen. Wie, wenn Krebse in einem Eimer sind. Sind drei drin, kannst du die einzelnen Krebse gut erkennen. Ist der Eimer voller Krebse, weißt du nicht, wo der eine aufhört und der andere anfängt; es ist alles eins.“ Magnus atmete auf. Vorerst.

      „Ich bin also ein Eimer voller Krebse?“, schmunzelte er über das Bild. Stefania überlegte, wie sie es ihm erklären könnte.

      „Natürlich nicht. Ein Krebs ist ein Gedanke, eine Idee, eine Erinnerung, oder auch mehrere. Der bewegt sich, wie sich Gedanken bewegen. Die meisten Menschen haben wenige davon, also bei ihnen ist das überschaubar. Bei dir … ist alles voll. Du hast viel mehr Gedanken als andere Menschen. Als wenn du mehr denkst, oder … mehr Erinnerungen hast.“, meinte sie ernst. Er würde sich vor diesem Kind, so anziehend er es fand, in acht nehmen müssen.

      „Mom sagt, du hast viele Bücher.“

      „Es hat sich im Laufe der Zeit einiges angesammelt. Du liest auch viel, habe ich gehört.“

      „Ja, aber ich habe nicht so viele Bücher. Wir gehen in die Bücherei und leihen sie aus.“ Das klang ein wenig traurig.

      „Sollen wir morgen ein paar Bücher kaufen?“, schlug Magnus vor. Stefanie strahlte ihn an und nickte, um sofort wieder traurig zu sagen: „Wir haben nicht so viel Geld, wir können nur gebrauchte Bücher kaufen.“ Magnus kniff das Mädchen sanft in die Wange.

      „Ich schenke dir ein paar.“ Stefanias Gesichtchen hellte sich auf und sie klatschte in die Händchen. „Prima!“

      „Mom sagt, du hast viel Geld.“ Die Erwachsenenscham hatte sie noch lange nicht erreicht.

      „Nun ja, äh, vielleicht etwas mehr als manche anderen Leute.“, stammelte Magnus verlegen.

      „Warum hast du so viel Geld?“ Vielleicht sollte sie rasch erwachsen werden.

      „Meine Vorfahren haben Eis zu Geld gemacht.“, lachte er. Stefania sah ihn kritisch an, dann sah sie auf die dunkle Straße.

      „Kennst du die Geschichte von Pinocchio? Das ist ein Junge aus Holz. Immer, wenn er lügt, wächst seine Nase.“ Magnus fühlte sich ertappt, aber warum? Was konnte dieses Kind wissen?

      „Warum sagst du mir das?“

      „Deine Nase ist etwas lang geraten.“

      „Deine auch.“, konterte er und lächelte zufrieden, als hätte er einen Ausgleich im Fußball erzielt. Allerdings schien ihm der Gegner nicht ebenbürtig, und darum schämte er sich sofort wieder.

      „Entschuldige, du hast eine nette Nase.“

      „Sie ist wie deine: etwas zu lang.“, stellte sie unbeleidigt fest.

      „Dann haben wir etwas gemeinsam.“ Er nickte ihr aufmunternd zu und sah nun auch auf die Straße.

      „Ja, wir können manchmal nicht die Wahrheit sagen.“ Das klang wie eine ganz rationale Feststellung, als wenn ihrer beider Lügen ein Naturereignis wären wie ein Sommerregen. Magnus sah die Kleine von der Seite mit gerunzelten Brauen an.

      „Erzähl mir von dem Eis.“

      Er hielt die Bierflasche hoch und tippte mit dem Zeigefinger daran. „Um das herzustellen, braucht man Kühlung. Ist im Sommer, ohne Strom, schlecht zu machen. Und in grauer Vorzeit gab es keinen Strom. Aber im Sommer haben die Leute am meisten Durst. Was sollte man also tun? Im Gebirge gab es Gletscher und in manchen Spalten Schneefelder, die sich über den Sommer hinweg hielten. Mein Vorfahr“, Stefania fasste sich an die Nase, „kannte sich aus. Er wusste, wo selbst im heißesten Sommer reines Eis zu finden war, nämlich in einer Höhle, und brachte es zu Tale. Das war im Grunde der Anfang meines Unternehmens.“

      „Und woraus besteht dein Unternehmen jetzt?“

      „Nun, du kennst doch Montanus-Limonaden und Montanus-Bier.“

      „Nur von der Werbung, Mom sagt, es ist zu teuer.“

      „So? – Jedenfalls stellen wir Getränke her, fast überall auf der Welt gibt es unsere Produkte zu kaufen.“

      „Oh. Auch in China?“ Magnus schüttelte den Kopf.

      „Mit China mache ich keine Geschäfte.“

      „Warum nicht?“

      „Weil dort die Menschenrechte missachtet werden.“ Stefania dachte kurz nach, dann nickte sie.

      „Das ist gut.“

      „Was ist gut?“

      „Dass du mit denen keine Geschäfte machst.“ Ein wenig Stolz über dieses Lob schlich sich in sein Herz.

      Auf dem dunklen Rasen vor dem Haus zeichnete sich ein heller Fleck ab. Das musste das Licht aus Kyonnas Zimmer sein, dachte er. Merkwürdige Person. Er hielt sich in seiner Rolle als Besucher der Bryants nicht gerade für eine Attraktion, aber es war sicherlich nicht alltäglich, dass in diesem Viertel ein wohlhabender Europäer eine schwarze Familie besuchte. Vor diesem Hintergrund war es außergewöhnlich, dass die Tochter des Hauses sich vor diesem Besucher verkroch. Will und Holly traten auf die Veranda und setzten sich ebenfalls.

      „Unterhaltet ihr euch gut?“, wollte Holly besorgt wissen.

      „Sehr gut.“, bestätigte Magnus. „Deine Tochter ist eine ganz bezaubernde und besondere Person.“ Holly lächelte stolz und strich ihrer Tochter über die drahtigen Haare. Stefania zeigte auf Magnus und meinte: „Er ist auch besonders.“

      „Bestimmt.“, pflichtete Holly ihr bei.

      „Du hast ja schon von Holly gehört, welche Theorie Dick entwickelt hat.“, sprach Will und es schien ihm peinlich zu sein. Er fixierte einen Punkt in der Nacht. Magnus nickte nur.

      „Mein Bruder ist kein Spinner. Wir haben oft darüber gesprochen, weißt du. Eigentlich kommt das Gespräch immer darauf, wenn wir zusammen sind. Er hat viel nachgedacht über das alles … Er will niemanden verletzen. Sei ihm nicht böse.“ Stefania sah Magnus in Erwartung einer Antwort gespannt an und Holly sah verschämt zu Boden.

      „Ich kann ihm nicht böse sein, ich kenne ihn ja gar nicht. Er muss eben, so schwer das ist, akzeptieren, dass ich große Ähnlichkeit mit meinen männlichen Vorfahren habe.“ Stefania berührte mit dem Zeigefinger ihre Nase.

      Stefania quengelte wie alle Kinder ihres Alters, als Holly ankündigte, sie ins Bett bringen zu wollen, fügte sich aber und gab ihrem Urgroßvater einen Kuss. Dann stand sie vor Magnus, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

      „Bis morgen.“, lispelte sie.

      „Bis morgen.“, lächelte er selig.

      „Das war eine große Ehre, Magnus.“, schmunzelte Will. „Sie ist sonst zurückhaltender. Nicht, dass sie unfreundlich Fremden gegenüber wäre, aber für so etwas muss sie einen schon sehr mögen.“

      „Das Verhältnis zwischen Stefania und Hollys Mutter scheint nicht so gut zu sein.“

      Will rutschte auf seinem Stuhl hin und her und kratzte seinen weißen Haarkranz.

      „So würde ich das nicht sagen. Sie haben ein spezielles Verhältnis. Es ist nicht so, dass Kyonna ihre Enkeltochter nicht mag, aber … Sie hat ein schlechtes Gewissen, glaube ich, sie schämt sich.“ Magnus lachte freudlos.

      „Auf so etwas muss man erst mal kommen: Spermaproben zu sammeln und damit der eigenen Tochter zu einem Kind zu verhelfen.“, spottete er.

      „Eine verrückte Idee.“, gab Will zu. „Hätte normalerweise


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