Der Andere. Reiner W. Netthöfel

Der Andere - Reiner W. Netthöfel


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einem Mal entzerrte sich sein Gesicht, ja, es wurde friedlich. Ein Lächeln zauberte sich darauf. Er nickte und sie glaubte zu hören, wie er ‚Oui, Sarah.‘ sagte. Dann stand er auf und ging, anscheinend zufrieden, zum Auto zurück, ohne seine Begleitung anzusehen, und Holly sah ihm entgeistert nach.

      „Was war das eben?“, fragte Holly nach einer Weile Fahrt, ohne ihn anzusehen.

      „Ich kann es nicht sagen.“, behauptete er und sah auf die Straße.

      „Kannst du doch!“, rief Stefania von hinten.

      „Steffi!“, wurde sie von ihrer Mutter zurechtgewiesen. „Ich hatte den Eindruck, du würdest mit jemandem sprechen.“

      „Es war doch niemand da.“, erklärte er lapidar.

      „Außer der Toten.“, kam es von hinten.

      Sie fuhren durch einen Wald, als plötzlich ein Rehkitz auf die Straße sprang. Magnus konnte nicht mehr ausweichen. Er vollführte eine Vollbremsung, die Mädels schrien auf und der Fahrer sprang aus dem Fahrzeug; auch die beiden anderen stiegen aus und begaben sich zur Vorderseite des Autos, wo Magnus vor dem sich windenden Tier kniete.

      „Tu was!“, rief die weinende Stefania. Holly drückte das Gesicht ihrer Tochter gegen ihren Bauch und starrte auf das verletzte Tier, dessen Vorderläufe gebrochen waren und den hilflos davor knieenden Mann.

      Magnus sah in die großen, verzweifelten Augen des kleinen Huftieres und wusste nicht, was er tun sollte. ‚Tu was!‘, hallte Stefanias Aufforderung in seinem Hirn nach. Er beugte sich vor und berührte die verletzten Beine des Tieres mit seinen Händen. Das Reh wurde ruhiger. Es sah ihn an und rappelte sich auf. Die Beine wiesen keine Verletzungen mehr auf. Erst langsam, dann immer schneller, schritt das Tier davon. Am anderen Ende der Fahrbahn blieb es stehen und sah sich zu ihm um, dann war es im Wald verschwunden.

      Holly und Stefania hatten die Szene ungläubig beobachtet.

      Wie in Trance stieg Magnus wieder ein. Langsam folgte Holly mit ihrer Tochter, die das Schauspiel verfolgt hatten.

      „Magnus?“, sagte Holly nach ein paar Meilen.

      „Ja?“ Er blickte stur geradeaus.

      „Die Beine waren gebrochen.“

      „Ja.“

      „Es ist davongelaufen, als wäre nichts passiert.“

      „Ja.“

      „Magnus!“

      „Ja?“ Er starrte auf die Straße.

      „War das auch nur ein … Kratzer?“

      „Ja.“

      Er hatte so etwas noch nie gemacht. Er wusste, dass er praktisch unverwundbar war, aber er wusste nicht, dass er Verletzungen heilen konnte. Er war sich sicher, dass er es bisher noch nicht gekonnt hatte. An erfrorene Füße dachte er nicht zurück, da spielte ihm seine Erinnerung einen Streich. Er hatte schon häufig Wunden berührt, aber nichts dergleichen war geschehen. Was war passiert? Womit hing das zusammen?

      Stefania las mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen in ihrem Buch über Mythen.

      Es war eine schweigsame Weiterfahrt.

      Am Abend klopfte es an seine Moteltür. Es war Holly, die ihm in die Augen sah. So einen seltsamen Blick hatte sie bei diesem Mann noch nie gesehen. Sein Blick verriet Verunsicherung und gleichzeitig eine grenzenlose Gewissheit, aber auch Angst und Zufriedenheit. Sie schauderte.

      „Darf ich hereinkommen?“ Wortlos trat er zur Seite und ließ sie vorbei. Unschlüssig standen sie in dem Raum, bis er auf einen der Sessel wies. „Setz dich doch.“, meinte er lapidar. Sie tat es und sah ihn weiterhin an, er aber mied ihren Blick.

      „Was ist passiert?“, fragte sie.

      „Was meinst du?“ Er setzte sich in den anderen Sessel.

      „Was ist heute passiert? An Sarahs Grab und, als du, als wir das Reh anfuhren?“

      Magnus rang die Hände und sah sie nicht an.

      „Ich habe ein Reh angefahren.“

      „Ich weiß.“ Beide schwiegen. Holly war allerdings der Auffassung, dass er ihr etwas zu erklären hätte.

      „Mehr hast du nicht zu sagen?“ Sein Blick, der jetzt auf ihr ruhte, wurde eiskalt; das kannte sie schon.

      „Das Reh hatte nur einen Kratzer.“ Holly nickte.

      „Klar. Und an Sarahs Grab war dir eine Mücke ins Auge geflogen und du hast Selbstgespräche geführt.“, entgegnete sie laut. Sie stand abrupt auf.

      „Ich denke, du solltest so bald wie möglich abreisen; du bist ein Freak.“ Als sie sein Zimmer verließ, kamen ihr die Tränen.

      War er ein Freak? An Sarahs Grab hatte er seinen Emotionen freien Lauf gelassen, bis er diese Signale empfangen hatte. Er hatte plötzlich das Gefühl gehabt, mit Sarah kommunizieren zu können. Er empfing etwas von ihr, das ihn ruhig werden ließ. Er empfing, dass er sich keine Sorgen oder kein schlechtes Gewissen zu machen brauchte. Sie und Tom seien glücklich gewesen und friedlich eingeschlafen.

      Die Sache mit dem Reh war etwas anderes gewesen. Seine Wunden heilten, das wusste er. Stefanias Worte hatten ihn veranlasst, die Läufe des Tiers zu berühren und sie waren geheilt.

      Stefania. Sie war entscheidend gewesen. Was war nur los? Was war mit ihm los? Welche Rolle spielte dieses Kind? Spielte es eine Rolle?

      Selten in seinem langen Leben war ihm so etwas passiert. Jedenfalls nicht in den letzten Jahrhunderten, nachdem er sich klar geworden war, was mit ihm los war und es akzeptiert hatte. Etwas, das er selbst nicht verstand, worüber er keine Kontrolle zu haben schien.

      Holly hatte ihn aufgefordert abzureisen. Aus ihrer Perspektive hatte sie sicher recht. Aber es ging nicht, er hatte hier noch etwas aufzuklären. Etwas, das mit ihm zusammenhing. Etwas, für das er keine Erklärung hatte. Noch nicht.

      12.

      Auf der Heimfahrt sprach er nicht mit ihr, und sie nicht mit ihm. Nur Stefania wechselte ab und an ein paar Worte mit ihm, die Holly aber rätselhaft vorkamen.

      „Du musst es zulassen.“, sprach ihre Tochter.

      „Ich habe keine Wahl, ich kann es nicht verweigern.“

      „Nicht, so lange ich bei dir bin.“, bestätigte das Mädchen seine Vermutung.

      „Dann solltest du immer bei mir sein?“

      „Das wäre eine Lösung.“

      „Wofür?“

      „Für alles.“

      Holly setzte sich auf Stefanias Bett und zog ihre Tochter auf ihren Schoß.

      „Ich habe ihn aufgefordert abzureisen.“, gestand sie leise. Steffi sah sie erschrocken an.

      „Warum?“ Ihre Augen fingen an zu schwimmen.

      „Er tut Dinge, die ich nicht verstehe. Es geschehen Dinge, die ich nicht verstehe.“

      „Es passieren immer Dinge, die man nicht versteht; deshalb wirft man keinen Gast hinaus.“, wies Steffi ihre Mutter mit zitterndem Stimmchen zurecht.

      „Er ist nicht offen.“

      „Vielleicht weiß er selbst nicht, was passiert. - Mom?“ Stefania blickte sie flehentlich an.

      „Ja, mein Schatz?“

      „Er soll nicht abreisen.“ Holly konnte ihrer Tochter keinen Wunsch abschlagen. Na ja, jedenfalls diesen nicht.

      Holly trat in das kleine Treppenhaus und setzte einen Fuß auf die Stiege, die zu seiner Kammer hinaufführte, als sie stockte. Sie hörte ihn oben sprechen. Er sprach eine Sprache, die sie nicht verstand, es mochte Spanisch sein, aber dennoch


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