Der Andere. Reiner W. Netthöfel
wandte sich nach einer Weile in einer Weise ab, wie man an einem sonnigen, aber eiskalten Wintertag wieder in das Haus geht. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, die bedeuten konnte, dass sie die Geschichte mit dem Vater nicht glaubte. Mittlerweile war Dick herangehumpelt.
„Mr. Montanus.“, sagte er schwer atmend. Er war zwar dürr, schien aber gesundheitliche Probleme zu haben und sah Magnus durch seine Brillengläser an.
„Magnus.“, sagte Magnus. Stefania trat aus dem Haus und begrüßte ihre Verwandten herzlich.
„Magnus.“, sagte Dick, „Was du damals …“ Magnus schüttelte den Kopf.
„Um eins klarzustellen, Dick, nicht ich war es, sondern mein Vater oder Großvater, ich weiß es nicht.“ Stefania fasste sich an die Nase und Dick sah kurz auf den Verandaboden.
„Okay, nehmen wir deine Version.“
„Sie ist die Richtige.“ Stefania rieb ihre Nase.
Etwas später kam auch Abraham, Abe, wie er genannt wurde, mit seiner Familie, die aus seiner Frau Charlotte und seinen Söhnen Alex und Carl bestand, die allerdings schon erwachsen waren. Abe, ein mittlerweile fast vierzigjähriger Mann von großer Statur, stand lange schweigend vor Magnus. Dann schien es, als wolle er auf die Knie fallen, was Magnus aber durch einen raschen Griff unter Abes Achseln verhinderte.
„Wir wollen doch nicht kindisch werden.“, murmelte er dabei. Abe hob verzweifelt die Hände. „Sie haben mir damals das Leben gerettet ….“
„Jetzt ist es aber gut!“, fuhr Magnus dazwischen. „Es war mein Vater, nicht ich, versteht ihr das?“ Er blickte in die Runde und sah, wie Stefania ihre Nase zwischen Zeigefinger und Daumen rieb.
„Deines Großvaters Hemd war eindeutig blutig. Ich habe es gesehen. Er muss verletzt gewesen sein.“, beharrte Patty später im Haus.
„Ich weiß das alles nicht. Er hat nie darüber gesprochen.“
„Auch über mich hat dein Vater nicht gesprochen?“, fragte Abe enttäuscht.
„Er war ein Mensch, der nie über Erfolge oder besondere Ereignisse berichtet hat. Außer, jemand fragte nach. Da ich nichts wusste, konnte ich auch nicht nachfragen.“ Stefania nieste.
Während die anderen in ihren Kaffeetassen rührten, referierte Dick die Familiengeschichte für einen einzigen aufmerksamen Zuhörer aus Übersee, denn die Familie kannte die Chronik auswendig und hörte nur höflichkeitshalber zu.
„Du hast nicht herausfinden können, wer Sarahs Briefpartner waren?“, fragte Magnus einmal detektivisch beiläufig. Dick grinste verschmitzt.
„Das Papier war alt und schlecht, die Tinte fast verblasst. Der größte Teil der Blätter zerbröselte, wenn man ihn ansah, den Rest hatten die Mäuse erledigt. Aber,“ Er schaute triumphierend in die Runde, „ein kleines Fragment habe ich retten können. Ich habe es präpariert und laminiert. Es sind nur ein paar Wörter, die keinen Sinn ergeben, aber eine Schriftanalyse kann man damit machen.“ Er zog eine Art Karte aus der Innentasche seines Jacketts. Es handelte sich um ein laminiertes, nicht ganz postkartengroßes Stück Papier. Auch ohne genau hinzusehen, wusste Magnus, dass sich seine Handschrift auf dem Papier befand. Er wusste nun, dass er in diesem Hause tunlichst nichts aufschreiben sollte.
„Ich habe vor ein paar Jahren die von deinem Vater zerschossene Bullenpeitsche erhalten.“, lachte Abe. „Ein guter Schuss.“ Immerhin schien wenigstens Abe begriffen zu haben, dass nicht Magnus es gewesen sein sollte, der so vortrefflich gezielt hatte.
Nach dem gemeinsamen Abendessen fuhren die Verwandten wieder nach Hause, wobei Abe mit seiner Familie einen Zwischenstopp in einem Motel machen musste, denn ihre Heimfahrt würde länger dauern. Von Dick hatte Magnus erfahren, an welchem Ort Sarah und Tom begraben waren.
„Ich werde morgen dorthin fahren.“, erklärte Magnus am späten Abend den drei Bryants auf der Veranda.
„Warum? Ich meine, es ist lange her und du kanntest sie nicht. Wie auch?“, wollte Holly wissen.
„Die Verbindung unserer Familien fängt mit ihr an.“, erklärte Magnus.
„Darf ich mit?“, fragte Stefania.
„Nein.“, entschied Holly. „Das ist langweilig und dauert viel zu lange.“
„Ich nähme sie gerne mit; wir übernachten in einem Motel. Wenn Stefania die Familiengeschichte interessiert, sollte sie mit.“
„Dann komme ich auch mit.“, entschied Holly.
11.
Am Vormittag des nächsten Tages brachen sie auf. Magnus war melancholisch, was den anderen natürlich auffiel.
„Was ist mit ihm los? Er ist so schweigsam.“, wollte Will wissen.
„Ich weiß es nicht, vielleicht hat er so Phasen.“, mutmaßte Holly.
Weitgehend schweigend fuhren sie nach Nordwesten. Selbst Stefania schien von der seltsamen Stimmung gefangen und verhielt sich ruhig und las eines ihrer neuen Bücher.
Nach Dicks Angaben war das Familiengrab, in dem nur Tom und Sarah lagen, da ihre Kinder fortgezogen waren, in einem Wald nahe der kanadischen Grenze. Er hatte jedoch nicht sagen können, ob es noch vorhanden war, oder in welchem Zustand es sich befand.
Magnus fuhr schweigend in den beschriebenen Waldweg. Bald erreichten sie eine große Lichtung, auf der sich, in einiger Ordnung, Grabsteine und Kreuze befanden. Der Friedhof wurde schon lange nicht mehr genutzt, so dass das Gelände ziemlich verwildert wirkte. Er hielt an und blieb einige Zeit sitzen, ohne ein Wort zu sagen, dann stieg er mit den heiser hingehauchten Worten: „Lasst mich alleine.“, aus.
„Warum …?“, wollte Holly fragen, als sich ihre Tochter nach Stunden des Schweigens meldete: „Er hat seine Gründe.“
„Was für Gründe?“
„Du wirst es erfahren.“
„Und du? Du kennst die Gründe schon?“, fragte Holly verärgert, sah sich nach ihrer Tochter um, die mit ernstem Gesicht auf der Rückbank saß und entschuldigte sich.
„Tut mir leid, Steffi. Ich verstehe das alles nur nicht. Verstehst du das?“
„Nicht richtig. Ich weiß nur, dass er seine Gründe hat. Er wird uns alles sagen. Wenn es an der Zeit ist.“
„Was wird er uns sagen?“ Holly klang verzweifelt.
„Ich weiß es nicht genau, aber es wird uns umhauen.“, informierte das Mädchen seine Mutter ernsthaft.
Sie sahen ihn suchend an den alten Grabmalen vorbeigehen und deren Inschriften studieren. Immer wieder ging er voran, um dann einen nächsten, zugewachsenen, alten Gang zurückzugehen. Mit einem Mal blieb er vor einem schlichten, verwitterten Holzkreuz stehen. Er bückte sich, um die Inschrift zu lesen, dann richtete er sich wieder auf, blickte zum Himmel, faltete die Hände vor seinem Bauch und sank auf die Knie. Er senkte seinen Kopf und sackte in sich zusammen. Sein Körper zuckte. Holly öffnete besorgt die Autotür und stieg aus.
„Was hast du vor, Mom?“
„Ihm geht es nicht gut, das sieht man doch. Ich will ihm helfen.“ Sprachs und lief los. Stefania besann sich nicht lang und lief hinterher.
Ein Stück vor dem Grab blieben Mutter und Tochter stehen. Der gekrümmt auf seinen Knien hockende Mann sprach. Er sprach in einer fremden Sprache, die Holly als Französisch identifizieren konnte. Und der Mann weinte. Holly hätte niemals daran gedacht, dass dieser Mann weinen könnte. Stefania schmiegte sich an ihre Mutter, die ihre Tochter an sich drückte, als müsste sie sie vor etwas beschützen.
Dieser europäische Kapitalist, der sich ein Küchenmesser aus der Brust gezogen hatte, mit dem Holly ihn angegriffen hatte, der so souverän und cool war, hockte vor einem verwitterten Holzkreuz mit einer kaum entzifferbaren Inschrift und schluchzte herzzerreißend. Holly verstand das nicht.