Der Andere. Reiner W. Netthöfel

Der Andere - Reiner W. Netthöfel


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werden könnte. Er war völlig überrascht, als es dann passierte, faselte etwas von Hyperfertilität und war nur schwer davon abzuhalten, einen Aufsatz für eine Fachzeitschrift zu schreiben.“

      „Du meinst, es war so etwas wie eine unbefleckte Empfängnis?“, fragte Magnus erstaunt.

      „So ähnlich. Es hat kein Sex stattgefunden und das Material war nach wissenschaftlichem Ermessen nicht tauglich.“ Die Männer schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.

      Stefanias Geburt war also eine Art Wunder, dachte Magnus, und Stefania ist, zumindest, ein außergewöhnliches Kind. Welche Überraschungen warteten noch auf ihn?

      „Wieso geht Stefania eigentlich noch nicht zur Schule?“, fragte Magnus zum Themenwechsel. Will seufzte.

      „Sie hätte schon letztes Jahr gehen können, intelligent genug ist sie, aber die nächstgelegene Junior High sieht sich nicht in der Lage, sie angemessen zu fördern und die übernächste ist eine Privatschule, zu teuer für uns.“

      „Stipendium?“

      „Auf Darlehensbasis. Soll Holly eine Entscheidung treffen, die Stefania einmal teuer zu stehen kommt? Etwas anderes wäre es, wenn ihr Vater bekannt wäre.“

      „Er hat sie nicht gezeugt.“

      „Ich weiß, er wäre nicht verpflichtet, aber vielleicht würde er freiwillig …“

      „Kaum. Wieso sagt Kyonna nichts über den Spender? Auch aus Scham?“

      „Ich weiß es nicht. Sie wollte Holly dieses Röhrchen nicht geben, sie sollte sich ein anderes nehmen, doch Holly bestand darauf. Warum ausgerechnet seine Probe tabu sein sollte, weiß ich nicht, es ist ihr Geheimnis.“ Will barg das Gesicht in seinen Händen, die Ellbogen auf die Knie gestützt. „Sie ist meine Tochter, Magnus. Meine Frau ist früh von uns gegangen und ich hatte einen wunderbaren Job. Vielleicht habe ich das Holz mehr geliebt, als meine Tochter.“

      Was Kyonna da aus dem Gummi in dieses Gläschen gefüllt hatte, war ihr selbst erst spät am Tage nach dieser stürmischen Nacht klargeworden. Als sie am Mittag erwachte, war der Mann schon fort, den sie in der Nacht in die Wohnung ihrer Freunde geschleppt hatte und dessen Nachamen sie nicht einmal kannte. In der Diskobeleuchtung des Klubs war er kaum zu erkennen gewesen und im Bett hatte sie auf anderes geachtet als auf sein Gesicht. Aber sie hatte natürlich festgestellt, dass er viel älter war als sie. Sie fand das aufregend. Außerdem war sie high gewesen. Erst als sie am Abend im Wohnzimmer eines Exemplars von Onkel Dicks Familienchronik angesichtig wurde, setzte sich in ihrem Kopf das eine mit dem anderen in Verbindung. Sie kannte natürlich Bilder dieses Magnus Montanus; in dieser Familie war er wie ein verstorbener Verwandter. Überall geisterte er herum. Als sie realisiert hatte, dass ihre Bekanntschaft der letzten Nacht diesem Kerl täuschend ähnlich sah, musste sie sich übergeben. Dann betrank sie sich auf ihrem Zimmer. Dann schrieb sie mit zitternder Hand ein ‚M‘ auf einen kleinen Zettel und klebte ihn auf das gläserne Röhrchen in ihrer Kühlbox mit den Souvenirs. Sie hatte mit dem Idol, oder dem Nachkommen des Idols ihrer Familie Sex gehabt. Niemand durfte das je erfahren. Niemand.

      10.

      „Jetzt ist es aber gut.“, meinte Holly zum wiederholten Male, aber sie drang nicht durch.

      Magnus, Stefania auf den Schultern, schritt munter voran durch die Bücherregale, den halb vollen Einkaufswagen vor sich her schiebend und erklärte: „Wir haben ja nun keine Comics oder Kinderbücher gekauft, Holly, sondern Sachbücher.“

      „Wir?“

      „Ja, sicher. Stefania hat ausgesucht, ich habe sie beraten und du …“

      „Du wirst auch bezahlen!“ Magnus zuckte die Schultern.

      „Ja, und?“ Stefania bekam ein schlechtes Gewissen.

      „Wir können ja ein paar wieder zurücklegen.“, meinte sie unglücklich.

      „Kommt gar nicht in Frage.“, postulierte Magnus, um gleich noch zu erhöhen: „Du brauchst auch einen Computer. Damit kommst du an alle Informationen, die du brauchst.“

      „Das geht nicht!“, protestierte Holly.

      „Und ob.“, parierte Magnus, heftig unterstützt von Stefania.

      Als Stefania sich einige PC-Spiele anschaute, nahm er Holly zur Seite.

      „Hör zu, Stefania muss gefördert werden. Sie muss auf eine gute Schule. Es wäre eine Schande, dieses Potenzial brach liegen zu lassen.“ Holly machte ein trotziges Gesicht.

      „Misch dich nicht in meine Erziehung ein; sie ist meine Tochter.“

      „Natürlich, aber du musst doch auch ein Interesse daran haben …“

      „Es ist zu teuer!“ Holly wandte sich ab. Okay, nicht jetzt, dachte Magnus. Aber bald.

      Stolz half Stefania, ihre neuen Bücher in das Haus zu tragen. Will sah dem Treiben etwas ratlos zu. „Das wäre aber nicht nötig gewesen.“, murmelte er.

      „Doch, es war überfällig.“, entgegnete Magnus knapp und schleppte den Karton mit dem Laptop die Treppe hinauf.

      „Hör zu, du brauchst hier nicht den reichen Onkel zu spielen.“, schimpfte Holly, als sie mit Magnus alleine im Wohnzimmer war.

      „Ich spiele nicht den reichen Onkel. Stefania ist hochbegabt und ich unterstütze sie; sie ist übrigens nicht die einzige und erste, die meine Unterstützung erfährt, wie du weißt, äh, die Unterstützung meiner Familie, meine ich.“, entgegnete Magnus und schalt sich innerlich für diesen fauxpas. Holly sah zu Boden.

      „Entschuldige. Wir sind dir, beziehungsweise deiner Familie, sehr zu Dank verpflichtet.“

      „Ich will keinen Dank.“, erklärte er und musste an Sarah denken, die auch geglaubt hatte, ihm ständig danken zu müssen. „Unsere Familien verbindet etwas, darüber haben wir schon gesprochen. Deine Tochter ist ein besonderes Mädchen, das weißt du selbst. Ich habe Geld genug und mir bereitet es Freude, ihr eine Freude machen zu können, klar? Und jetzt Schluss damit. Ich will, dass ihre Begabungen gefördert werden, alles andere wäre Unfug.“

      „Wie soll das gehen?“ Holly sah ihn mit ihren schönen Augen an.

      „Das werde ich dir schon noch sagen.“ Draußen fuhr ein Auto vor. Holly blickte hinaus und sagte: „Das ist Onkel Dick.“

      Dick und Patty Bryant schraubten sich umständlich aus der Limousine, wie es alte Leute nun mal so taten. Dick war etwas älter als sein Bruder Will und Patty ungefähr in Wills Alter, doch Magnus erkannte die junge Frau von damals wieder. Sie war, wie ihr Mann, sehr schlank und hatte, wie er, volles graues Haar. Sie starrte auf die Veranda von Wills Haus, wo nun Holly und Magnus standen. Nach einer Weile des Verharrens kam sie zielstrebig auf die beiden zu; ihr Mann folgte mit Mühe langsam. Sie schritt die drei Holzstufen herauf und zögerte. Dann trat sie dicht an Magnus heran und sah ihm von unten ins Gesicht.

      „Ich glaube es nicht.“, flüsterte sie. „Ich glaube es nicht.“

      „Patty, was ist denn los?“, wollte Holly lachend wissen. Patty stach Magnus ihren Zeigefinger in den Bauch.

      „Da.“, sagte sie nur.

      „Was ist da?“, fragte Holly kopfschüttelnd.

      „Da war das Blut.“

      „Welches Blut?“

      „Sein Hemd war blutgetränkt. Genau da.“

      „Patty.“, rief Holly ihre Großtante zur Ordnung. Magnus hatte sich nicht gerührt und hatte keine Miene verzogen, er betrachtete die kleine, alte, schwarze Frau, die vor ihm stand, einen ihrer Zeigefinger in seinen Bauch gerammt hatte und ihn anstarrte, wie damals in der Menge, als er dem Rassisten die Pistole entwunden hatte und sie selbst in der Hand hielt. Plötzlich zog Patty Magnus zu sich herunter, umschlang seinen Hals und flüsterte in sein Ohr: „Danke.“ Magnus erwiderte die Umarmung und flüsterte zurück:


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