Der Andere. Reiner W. Netthöfel
sich Kyonna. „Na klar. Sicher, so ist das.“, stammelte sie. „Ich habs ja immer gewusst.“
„Was hast du gewusst?“, nuschelte Holly, die ebenfalls die Treppe hinunter gekommen war. Jetzt wurde die Sache brenzlig. Magnus sprach betont langsam und eindringlich und sah Holly dabei intensiv an.
„Wir haben ja gestern herausgefunden, dass die Spermaprobe von meinem Vater ist und Steffi und ich somit Halbgeschwister sind.“ Hollys Blick war unbeschreiblich. Sie war sich sicher, dass das Ergebnis ihrer gestrigen Diskussion ein anderes gewesen war, hatte jedoch die Hoffnung, dass sie das nur geträumt hatte. Hatte sie dann auch geträumt, dass Magnus bei ihr geschlafen hatte? Diese Traumerlebnisse waren so intensiv gewesen … Sie war in Ohnmacht gefallen, als Magnus behauptet hatte, er sei zweitausend Jahre alt … Nein, das war kein Traum gewesen. Magnus sah sie an und wies mit seinem Blick zu Will, der, in Erwartung einer Reaktion seiner Enkelin, noch immer mit dem Löffel in der Hand am Küchentisch stand.
Jetzt verstand sie. Das war eine Geschichte für Will. Also hatte sie nicht geträumt. Leider. Sie setzte sich schweigend.
„Was sagst du dazu? Steffi hat einen Bruder.“, informierte sie Will.
„Ja, das ist schön.“, meinte sie mechanisch und goss sich Kaffee ein. Will schüttelte unwillig den Kopf. Das Kind war seit einiger Zeit anders als sonst. Begeistert von dem Familienzuwachs schienen die beiden Damen jedenfalls nicht gerade zu sein.
Etwas überraschend für alle erklärte Magnus im weiteren Verlauf des Frühstücks Überlegungen, mit seiner neuen Schwester und deren Mutter nach Hause fliegen zu wollen, um Stefania sein Heim zu zeigen, und das so schnell wie möglich. Magnus behagte es überhaupt nicht, den Alten mit seiner absurden Geschichte angelogen zu haben und fühlte, dass auch Will bald die ganze Wahrheit erfahren würde.
Zunächst aber brachte er sich, seine Tochter und Holly aus der Schusslinie.
Der Tag war mit Reisevorbereitungen zu Ende gegangen, wobei besonders Stefania sehr aufgeregt war, stand doch ihre erste Flugreise bevor. Die Kleine putzte sich heraus, bestand darauf, ihr Sonntagskleidchen anziehen zu dürfen und ihre Drahthaare besonders gewagt um das Köpfchen zu drapieren. Kyonna hingegen wirkte entspannt und ausgeglichen, ja, geradezu fröhlich für ihre Verhältnisse und raunte ihrem Exlover nur hin und wieder zu, die Sache zu bereinigen. Dieser konnte sich aussuchen, was sie meinte, doch glaubte er, dass er Holly endgültig überzeugen sollte und Will reinen Wein einschenken, damit Steffi ihn auch in Anwesenheit von Will ‚Daddy‘ nennen konnte.
Holly wirkte hingegen seltsam abwesend und gedankenschwer, was nun nicht wirklich überraschte nach dem, was man ihr in den letzten achtundvierzig Stunden zugemutet hatte.
Magnus hingegen schickte sich an, an seine Zukunft zu denken, in der nicht nur wie bisher ausschließlich er eine Rolle zu spielen hatte. Schließlich hatte er eine Tochter, und die wiederum eine Mutter, wozu dann auch eine Familie gehörte.
15.
Zehn Kilometer über Madeira fragte er sie: „Du glaubst mir immer noch nicht, nicht wahr?“
Sie sah an ihrer Tochter vorbei durch das Fenster und sprach: „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ Magnus räusperte sich.
„Ich habe nicht alles gesagt.“ Holly sah ihn fragend an. Was gab es jetzt? Gab er es jetzt zu? Stimmte das alles nicht? Magnus nickte.
„Es gibt da noch jemanden in meinem Leben.“ Hollys Herz verkrampfte sich. Er hatte eine Frau. Auch Stefania fand das, was er zu erzählen haben würde, spannender als die unter ihnen liegenden Wolkenformationen und sah ihren Vater interessiert an.
„Ich war vor ein paar Jahren in Mexiko, fuhr über Land. Ich kam in eine kleine Stadt, als sich ein lokales Erdbeben ereignete. Mehrere Menschen wurden verschüttet, als ein öffentliches Gebäude einstürzte. Ich half bei den Bergungsarbeiten. Es waren alle tot, bis auf ein junges Mädchen, das aber viel Blut verloren hatte. Sie brauchte eine Transfusion. Es gab kein Krankenhaus in dieser Stadt, aber einen tüchtigen Arzt, der ebenfalls bei der Bergung geholfen hatte. Da das Mädchen seine Patientin war, wusste er deren Blutgruppe, aber niemand der anderen kannte seine. Eile war geboten. Ich behauptete einfach, ich hätte die passende Blutgruppe, hoffte, dem Mädchen helfen zu können, denn ich glaubte, mein Blut sei besonders. In seiner Praxis versorgte der Mann die junge Patientin, stillte die Blutungen und bereitete alles für eine Übertragung vor. Es war sehr primitiv und dauerte sehr lange. Sie bekam mein Blut und zur Überraschung des Arztes schritt die Heilung ihrer Wunden sehr rasch fort. Ich hatte mir so etwas gedacht. Es war zwar noch nie vorher passiert, aber ich ahnte es. Innerhalb von ein paar Tagen war sie genesen und wir freundeten uns an. Da ihre Eltern und Geschwister bei dem Beben ums Leben gekommen waren, entschloss ich mich, sie zu mir zu nehmen.“
„Als deine Tochter?“, fragte Holly hoffnungsvoll.
„Gewissermaßen.“
„Habe ich jetzt auch eine Schwester?“, rief Steffi erfreut.
„Ja.“, antwortete Magnus.
„Nein.“, meinte Holly zeitgleich, was ihr einen kritischen Blick vom Vater ihrer Tochter einbrachte.
„Was denn nun?“, fragte Steffi verwirrt.
„Erstens ist nicht bewiesen, dass Magnus tatsächlich dein Vater ist,“ was sie allerdings, je länger sie die beiden beobachtete, selbst nicht glaubte, „dann müsste er, zweitens, die Vaterschaft anerkennen, und, drittens, ist dieses Mädchen nicht wirklich seine Tochter.“
Magnus schaltete sich, etwas verärgert über Hollys Worte, ein: „Wenn ihr wollt, erkenne ich die Vaterschaft über Steffi an; ich kann noch heute meine Anwälte instruieren. Einen Gentest will ich nicht machen lassen, wer weiß, was dabei herauskommt …“
„Was soll dabei herauskommen?“, fragte Holly überrascht.
„Na ja, vielleicht habe ich ja ein Spezialgen, oder so etwas. Ich möchte nicht, dass es jemand erfährt.“
„Aha.“ Spezialgen, genau. Wenn seine Geschichte stimmte, hatte er wahrscheinlich so etwas.
„Die Sache mit Melissa, so heißt die mittlerweile junge Frau, ist etwas komplizierter. Ich habe sie nicht adoptiert; ohne Ehefrau ist so etwas nicht so einfach. Ich war aber ihr Vormund und sie hat einige Jahre mit mir zusammengelebt, das heißt, sie wohnt immer noch bei mir. Sie hat meinen Namen angenommen. Sie hat eine Menge Blut von mir bekommen.“ Seine letzten Worte kamen sehr bedeutungsvoll daher, so dass Holly die Stirn runzelte.
„Was heißt das?“ Holly fühlte sich, als hätte sich das Flugzeug um sie herum in Luft aufgelöst und klang entsprechend bang.
„Sie ist ein wenig wie ich.“, erklärte er leise. Holly hatte Mühe, das Puzzle in ihrem Kopf in gebotener Zeit zusammenzusetzen.
„Was heißt das?“, wiederholte sie.
„Sie hat Probleme mit dem Älterwerden.“ Holly schluckte, sah ihn an, sah ihre Tochter an und musste die nächste Frage gar nicht stellen, denn die Antwort kam auch ungefragt.
„Es ist möglich.“, nickte Magnus. Steffi, nicht auf den Kopf gefallen, ahnte, wovon die Rede war.
„Ich will aber nicht ewig fünf bleiben!“, protestierte sie. Magnus lächelte, sprach dann aber ernst weiter.
„Ich weiß nicht, wie es passiert und wann es passiert. Ich weiß nicht, ob es dir passieren wird, oder ob etwas anderes mit dir passiert, oder ob gar nichts passiert. Bei mir hörte es plötzlich auf, so, als ich Anfang vierzig war.“
„Was hörte plötzlich auf und wieso kannst du das nicht genau datieren?“, fragte Holly skeptisch.
„Als ich so alt aussah wie jetzt, wurde ich nicht mehr älter. Also, ich wurde schon älter, aber man sah es mir nicht an. Ich kann es nicht genau datieren, weil ich nicht weiß, wie alt ich wirklich bin. Als ich geboren wurde, gab es keine Kalender, jedenfalls bei uns nicht. Ich schätze daher, dass ich zwischen vierzig und fünfzig war.“
„Keiner