Flucht aus der Würfelwelt. Karl Olsberg

Flucht aus der Würfelwelt - Karl Olsberg


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Dort chattete sie täglich stundenlang mit Marko, während ihre Mutter sich langsam erholte. Amelie freute sich unheimlich auf das Ende der Ferien. Doch dann kam alles ganz anders.

      Am Tag der geplanten Rückreise packte Amelie gut gelaunt ihre wenigen Kleidungsstücke in den Koffer. Sie konnte es kaum erwarten, dass ihre Großeltern sie zum Bahnhof fuhren, doch der Zug ging erst in zwei Stunden. Von ihrer Freundin Julia, die auf einem Nachbarhof wohnte, hatte sie sich schon gestern verabschiedet. Sie schickte eine Kurznachricht an Marko: Bin beim Packen. Kann es kaum erwarten, wieder zuhause zu sein. Freue mich auf die Schule.

      Es dauerte weniger als eine Minute, bis die Antwort kam: Du freust dich auf die Schule? Waren die Ferien denn so schrecklich?

      Amelie zögerte. War Marko wirklich so dumm, dass er nicht verstand, was sie mit ihrer Nachricht hatte sagen wollen – dass sie sich darauf freute, ihn wiederzusehen? Oder wollte er es nicht verstehen? Vielleicht freute er sich gar nicht auf sie? Vielleicht war der Kuss nach dem Aufwachen aus dem Koma nur seiner Erleichterung zu verdanken gewesen, oder noch schlimmer, seiner Verwirrung?

      Sie atmete tief durch, dann schrieb sie: Zuhause ist es eben doch am schönsten.

      Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, kamen ihr Zweifel. Irgendwie klang das ziemlich spießig, wie einer dieser alten Sinnsprüche, die in Holzscheiben gebrannt in der Küche ihrer Großeltern hingen.

      Ja, finde ich auch, kam die Nachricht zurück.

      Was sollte das jetzt wieder bedeuten? Freute er sich darauf, dass sie wieder nach Hause kam, oder war er einfach nur froh, nicht mehr im Krankenhaus zu sein?

      Sie wünschte sich, sie hätte mehr Erfahrung mit Jungs, so wie die anderen Mädchen in ihrer Klasse. Doch Marko war der Erste, der überhaupt von ihr Notiz genommen hatte. Und das, obwohl sie ihm die kalte Schulter gezeigt hatte, aus Angst, er könne die Wahrheit über sie erfahren. Aber er war hartnäckig geblieben, und irgendwann war der Damm gebrochen und sie hatte sich ihm geöffnet. Es war schrecklich und wunderbar zugleich gewesen – schrecklich, weil er nun wusste, welche schlimmen Dinge ihr Stiefvater ihr angetan hatte, und wunderbar, weil sie die Last nicht mehr allein tragen musste. Doch dann hatte Marko den Mistkerl in seiner Arztpraxis zur Rede gestellt und hatte dafür beinahe mit dem Leben bezahlt. Was immer auch geschah, sie würde Marko bis ans Ende ihres Lebens dafür dankbar sein, was er getan hatte.

      Muss jetzt los zum Bahnhof, schrieb sie, obwohl es noch reichlich Zeit war. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es besser war, alles Weitere von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu besprechen. Sie würde ihn einfach fragen, ob er wirklich mit ihr zusammen sein wollte. Und wenn ja, dann würde er sie in den Arm nehmen und …

      Das Signal ihres Handys riss sie aus ihrer Fantasie. Eine Antwort von ihm war eingetroffen: Freue mich auf dich! Gute Fahrt!

      Sie lächelte breit.

      Gerade, als sie eine Antwort tippen wollte, klingelte das Handy ihrer Mutter.

      „Hochleitner?“ Obwohl sie offiziell immer noch mit dem Mistkerl verheiratet war, meldete sich Mama nur noch mit ihrem Mädchennamen.

      „Was? Wann?“ Amelies Mutter wurde blass. „Aber … wie ist das möglich? … Bei meinen Eltern. Wir wollten gerade zurück nach Hause … Aber könnten Sie nicht jemanden zu unserem Schutz … Ja, natürlich, das verstehe ich. Ja, ist gut. … Moment, ich notiere mir das.“

      Ihre Mutter ging zu dem schmalen Sekretär, der im Gästezimmer ihrer Großeltern als Schreibtisch diente, und schrieb etwas auf einen Zettel.

      „Danke, Herr Hauptkommissar. Bitte halten Sie uns auf dem Laufenden … Ja, natürlich, ich melde mich auf jeden Fall, sobald ich etwas Ungewöhnliches bemerke. Auf Wiederhören!“

      Sie legte auf und setzte sich auf das Bett, das Gesicht weiß wie eine Wand.

      „Was … was ist denn los, Mami?“, fragte Amelie.

      „Das war die Kriminalpolizei, ein Hauptkommissar Keller. Stefan … das miese Schwein ist gestern Nacht aus dem Untersuchungsgefängnis ausgebrochen. Er ist vielleicht schon auf dem Weg hierher. Wir müssen sofort von hier verschwinden!“

      Amelie fühlte sich, als täte sich der Boden unter ihr auf und sie stürze in ein tiefes Loch.

      „Ausgebrochen? Wie denn?“

      „Das ist doch jetzt egal! Er hat geschworen, sich an Marko und uns zu rächen. Die Polizei hat nicht genug Leute, um uns alle zu beschützen. Sie kümmern sich jetzt erst mal um den Jungen. Der Kommissar meinte, wir sollten am besten für eine Weile untertauchen und niemandem sagen, wo wir sind, bis sie ihn wieder gefasst haben.“

      „Aber … ich muss doch in die Schule …“ Tränen traten in Amelies Augen.

      „Die Schule ist jetzt nicht so wichtig! Komm, wir müssen uns beeilen!“

      Freunde ihrer Großeltern besaßen eine Ferienwohnung in der Nähe, die momentan nicht vermietet war. Sie beschlossen, dort zu bleiben, bis er gefasst worden war.

      Amelie holte ihr Handy heraus, um Marko eine Nachricht zu schreiben, doch ihre Mutter riss es ihr aus der Hand.

      „Nein!“

      „Aber ich muss ihm doch …“

      „Der Kommissar hat gesagt, dass wir niemandem mitteilen dürfen, wo wir sind.“ Sie entfernte den Akku aus dem Handy und steckte es in ihre Handtasche.

      „Das kannst du nicht machen, Mama! Ich muss Marko doch wenigstens schreiben, dass wir noch ein paar Tage länger in den Ferien bleiben!“

      Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Sie wirkte ängstlich und verwirrt. „Nein! Keine Handys mehr! Man kann diese Dinger orten, und dann weiß er, wo wir sind!“

      „Aber Mama …“

      „Schluss jetzt! Wir müssen weg sein, bevor er hier ist!“

      Seitdem sitzt Amelie nun in der blöden Ferienwohnung fest. Jeden Tag fährt ihre Mutter in den Nachbarort und ruft von dort mit einem altmodischen Münztelefon Hauptkommissar Keller auf seinem Handy an. Jedes Mal, wenn sie in die Ferienwohnung zurückkehrt, blickt Amelie sie hoffnungsvoll an, doch sie schüttelt immer bloß den Kopf. Dr. Stefan Schiller, der Mann, der geschworen hat, sie beide umzubringen, ist immer noch auf freiem Fuß. Wenigstens geht es Marko den Angaben des Kommissars zufolge gut.

      Amelie verfolgt die Bahn eines Regentropfens mit dem Finger.

      „Wir können uns doch nicht ewig verstecken!“, sagt sie.

      „Die Polizei wird ihn schon kriegen!“, erwidert ihre Mutter. Doch es klingt nicht sehr überzeugend.

      3.

      Der Hügel, auf dem ich meine Hütte errichtet habe, liegt am Rand einer weiten Ebene. Ich durchquere sie und erreiche den Wald auf der anderen Seite. Wo genau hab ich beim letzten Mal meine Hütte gebaut? Der exakte Standort ist wichtig, denn genau darunter lag der unterirdische Fluss, in den ich gestürzt bin und der zur Höhle mit Gronkhs Behausung führte. Doch der Wald ist groß, und meine Erinnerungen sind undeutlich. Die Sonne steht bereits niedrig, und ich will die Nacht lieber nicht im Freien verbringen. Also schlage ich rasch noch ein paar Holzwürfel und baue eine primitive Hütte, wobei ich darauf achte, wie beim letzten Mal einen steilen Hang als Rückwand zu nutzen.

      Sobald ich ein Dach über dem Kopf habe, grabe ich in die Tiefe. Natürlich nicht einfach senkrecht nach unten wie beim ersten Mal, sondern in einer spiralförmigen Treppe. Nachdem ich auf eine Eisenerzader gestoßen bin und auch einige Kohleblöcke gefunden habe, crafte ich mir einen Stapel Fackeln und einen Brustpanzer – für eine Vollrüstung reicht das Eisen noch nicht. Dann grabe ich weiter.

      Bald ist klar, dass ich die Hütte nicht an der richtigen Stelle gebaut habe. Aufs Geratewohl grabe ich einen Stollen, der parallel zum Waldrand verläuft. Nach kurzer Zeit höre ich vertraute Geräusche: die Unnghs von Zombies und das Knochenklackern von Skeletten. Ich ändere die Richtung des Gangs, so dass die Geräusche lauter werden, bis ich schließlich eine Höhle


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