Flucht aus der Würfelwelt. Karl Olsberg

Flucht aus der Würfelwelt - Karl Olsberg


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eine Fackel an. Ihr flackerndes Licht beleuchtet eine schmale Höhle, in deren Mitte sich ein Fluss schlängelt. Der Boden liegt zwei Blöcke unterhalb meines Ganges. Zwei Skelette und ein Zombie sind zu sehen. Kein ernsthaftes Problem für einen erfahrenen Computerspieler. Beherzt springe ich in die Höhle und stürze mich auf das erste Skelett, wobei ich mich im Zickzack bewege, um den Pfeilen auszuweichen. Kurze Zeit später sind von den drei Monstern nur noch ein paar faulige Fleischfetzen, Knochen und Pfeile übrig.

      Ich folge dem Flusslauf, wobei ich alle paar Schritte eine Fackel an der Wand anbringe. Hin und wieder treffe ich auf ein einzelnes Monster, mit dem ich jedoch mühelos fertig werde. Sobald ich Eisen in der Höhlenwand schimmern sehe, baue ich die Blöcke ab.

      Nach einer Weile öffnet sich der tunnelartige Flusslauf in eine weite Höhle. Ich erkenne ihre Form wieder: Dies ist der Ort, an dem ich Gronkh traf. Doch von seiner unterirdischen Behausung ist nichts zu sehen. Enttäuscht lasse ich meinen Frust an ein paar unschuldigen Skeletten und Kriechern aus.

      Nachdem ich die ganze Höhle mit Fackeln erleuchtet habe, ist mir klar, dass nicht nur Gronkhs Behausung fehlt. Auch von dem versunkenen Tempel mit dem riesigen Steingesicht im Inneren ist keine Spur zu finden. Ich kann nicht denselben Weg wie beim ersten Mal gehen, um aus der Würfelwelt zu fliehen. Das Auryn hat mir zwar ermöglicht, die Welt, durch die ich irrte, neu zu erschaffen, aber die Kopie ist offensichtlich nicht exakt.

      Was nun? Ich könnte hier eine Hütte bauen und hoffen, dass Gronkh vielleicht irgendwann vorbei kommt. Wäre es nicht ironisch, wenn sich herausstellte, dass nicht er seine unterirdische Behausung gebaut hat, sondern ich? Aber das würde nicht funktionieren. In dieser Welt gibt es keinen Gronkh. Wenn ich keinen anderen Ausweg finde, werde ich für immer einsam herumirren, ohne einen Freund, mit dem ich sprechen kann.

      Eine tiefe Traurigkeit überkommt mich. Diesmal wird mir niemand helfen, weder Gronkh noch Concrafter, weder Platon noch der Tod. Dr. Johannsen hatte recht: Es war ein Fehler, die Tür zur Würfelwelt zu öffnen. Indem ich vor der Realität geflohen bin, habe ich alles nur noch schlimmer gemacht. Wenn ich doch wenigstens Platons Warnung beachtet und die Macht des Auryns nicht genutzt hätte!

      „Amelie!“, rufe ich in meiner Verzweiflung. „Amelie! Kannst du mich hören?“

      Doch zur Antwort höre ich nur den Nachhall meiner eigenen Stimme, die von den Höhlenwänden zurückgeworfen wird.

      4.

      Amelie schreckt aus dem Schlaf. War da eine Stimme?

      „Marko?“, fragt sie in die Dunkelheit.

      „Hmmwas?“

      „Entschuldige, Mama. Ich habe schlecht geträumt.“

      Während sie noch versucht, sich an den Traum zu erinnern, lösen sich die Erinnerungen daran auf wie Nebel im Sonnenlicht. Sie versucht, wieder einzuschlafen, doch es will ihr nicht gelingen. Das Gefühl, dass Marko in Gefahr ist und ihre Hilfe braucht, lässt ihr Herz heftig schlagen. Sich nur zu verstecken hält sie nicht länger aus. Sie muss zu ihm! Aber ihre Mutter wird das niemals erlauben.

      Nach einer oder zwei ruhelosen Stunden fasst sie einen Plan. Lautlos klettert sie aus dem Bett und zieht sich an. Sie fühlt sich schlecht, als sie hundert Euro aus der Handtasche ihrer Mutter nimmt, aber ohne Geld kann sie nicht fortgehen. Im Badezimmer schreibt sie einen Zettel: Bin bei Marko. Er braucht mich. Mach dir keine Sorgen, ich passe auf mich auf. Das Geld zahle ich von meinem Taschengeld zurück. Verzeih mir! Amelie.

      Es gelingt ihr, die Tür der Ferienwohnung lautlos zu öffnen und hinter sich zu schließen. Draußen ist es noch dunkel. An einer Bushaltestelle setzt sich auf die Bank. Der nächste Bus in Richtung Bahnhof fährt erst in einer halben Stunde. Jede Minute rechnet sie damit, ihre Mutter und Großeltern mit vor Wut geröteten Gesichtern heraneilen zu sehen. Doch nichts dergleichen geschieht.

      Als sich die Bustür hinter ihr schließt, atmet Amelie erleichtert auf. Im selben Moment überkommen sie starke Zweifel. Ist es wirklich klug, sich Marko zu nähern? Ist es nicht genau das, worauf ihr mörderischer Stiefvater wartet? Was, wenn sie in eine Falle tappt? Doch für solche Überlegungen ist es nun zu spät. Es gibt kein Zurück mehr.

      Der kleine Bahnhof des Ferienorts hat keinen Fahrkartenschalter. Sie kauft am Automaten eine Fahrkarte bis zum Umsteigebahnhof. Dort löst sie im Servicecenter ein Zugticket nach Hause. Niemand stellt ihr Fragen. Eine Viertelstunde später sitzt sie in einem Großraumwagen, der größtenteils von einer lärmenden Schulklasse belegt ist. Hier fällt sie nicht weiter auf. Während der Fahrt starrt sie aus dem Fenster und versucht, sich einen Plan zurechtzulegen. Aber viel fällt ihr nicht ein, außer dass sie so schnell wie möglich mit Marko sprechen will. Wenn sie doch bloß ihr Handy hätte, um ihm mitzuteilen, dass sie kommt! In der Handtasche ihrer Mutter war es nicht, und in der Eile heute Morgen hatte sie keine Zeit, danach zu suchen.

      Endlich erreicht der Zug sein Ziel. Amelie nimmt sich ein Taxi und nennt dem Fahrer Markos Adresse. Ihr Herz pocht heftig, als sie schließlich vor seiner Haustür steht. Ihre Mutter hatte gesagt, dass die Polizei jemanden zu Markos Schutz abgestellt hat, doch sie kann keine Beamten entdecken. Vielleicht parken sie irgendwo unauffällig in der Nähe.

      Sie fasst sich ein Herz und drückt auf das Klingelschild mit dem Namen Leyenbrink.

      „Ja bitte?“ Es ist die Stimme von Markos Mutter.

      „Hallo Frau Leyenbrink, hier ist Amelie. Ich möchte zu Marko.“

      „Amelie! Es tut mir leid, aber Marko … ist nicht da.“

      „Darf ich trotzdem reinkommen?“

      „Ja, natürlich.“

      Der Türsummer erklingt. Amelie hastet die Treppe hinauf. Frau Leyenbrink steht an der geöffneten Wohnungstür. Sie lächelt und umarmt Amelie.

      „Schön, dass du kommst! Wo bist du gewesen? Marko hat sich Sorgen um dich gemacht.“

      Er hat sich Sorgen gemacht! Ein warmes Gefühl erfüllt sie.

      „Die Polizei hat gesagt, es ist besser, wenn wir uns eine Weile versteckt halten und niemandem sagen, wo wir sind.“

      Markos Mutter macht ein überraschtes Gesicht. „Die Polizei? Warum denn das?“

      „Mein Stiefvater hat geschworen, sich an meiner Mutter und mir zu rächen.“

      „Das kann ich mir denken. Aber er sitzt ja zum Glück im Gefängnis.“

      „Aber … er ist doch ausgebrochen!“

      „Ausgebrochen? Wie kommst du denn darauf?“

      „Die Polizei hat meine Mutter angerufen. Ein Hauptkommissar Keller, glaub ich. Er hat gesagt, dass mein Stiefvater aus der Untersuchungshaft geflohen ist. Er meinte, sie stellen jemanden zum Schutz von Marko ab, haben aber nicht genug Leute, um auch uns zu beschützen. Deshalb haben wir uns versteckt.“

      Markos Mutter runzelt die Stirn.

      „Seltsam. Davon weiß ich gar nichts. Am besten, wir rufen mal bei der Polizei an.“

      Es stellt sich schnell heraus, dass Amelies Stiefvater immer noch in Untersuchungshaft sitzt. Kein Ausbruch. Keine Gefahr. Kein Grund, sich zu verstecken. Aber warum hat ihre Mutter sie angelogen?

      Vielleicht wollte sie einfach nicht wieder in ihre Wohnung zurück. Die Jahre mit ihrem zweiten Mann waren für sie beide die Hölle. Möglicherweise hat sie es nicht über sich gebracht, in dieses Leben zurückzukehren, selbst wenn er nicht mehr da ist. Zu viel hätte sie an ihn erinnert. Sie hat sich nicht getraut, die Wahrheit zuzugeben, also hat sie den Ausbruch erfunden. Amelie sollte jetzt wütend auf ihre Mutter sein, doch sie empfindet nur Mitleid.

      „Sollen wir deine Mutter anrufen?“, fragt Frau Leyenbrink.

      Amelie schüttelt den Kopf, halb aus Trotz, halb, um ihrer Mutter die Peinlichkeit zu ersparen. „Nein, das ist nicht nötig. Das ist sicher nur ein Missverständnis. Ich spreche später mit ihr. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern hier warten, bis Marko aus der Schule kommt.“

      Die


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