Flucht aus der Würfelwelt. Karl Olsberg

Flucht aus der Würfelwelt - Karl Olsberg


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an Markos Aussage?“

      Der Arzt beugt sich vor. „Wenn ich eines in vielen Jahren als Psychiater gelernt habe, liebe Amelie, dann dieses: Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Das, was wir als unsere Welt wahrnehmen, ist nicht die Realität. Es ist nur ein Bild, das sich unser Gehirn konstruiert. Dieses Bild kann die Wirklichkeit niemals exakt wiedergeben. Die Frage ist nur, wie groß die Abweichungen sind. Es gab mal einen griechischen Philosophen namens Platon, der hat in seinem berühmten Höhlengleichnis …“

      Amelie muss sich selbst daran hindern, vom Stuhl aufzuspringen. „Entschuldigung, aber was hat griechische Philosophie mit Markos Zustand zu tun?“

      „Was ich damit sagen will“, fährt Dr. Johannsen ungerührt fort, „ist, dass Marko vielleicht selbst nicht genau weiß, was mit ihm geschehen ist. Sein Gehirn wurde bei dem Koma offenbar geschädigt. Seit er aufgewacht ist, leidet er unter starken Wahrnehmungsverzerrungen. Du kannst es Halluzinationen oder Wahnvorstellungen nennen, wenn du willst. Auch seine Erinnerungen sind möglicherweise in Mitleidenschaft gezogen worden. Leider gibt es keine Möglichkeit, das genau festzustellen. Wir wissen lediglich, dass Marko glaubt, von deinem Stiefvater eine Spritze erhalten zu haben. Und wir wissen, dass er in seiner Praxis war, dort zusammengebrochen ist und Dr. Schiller sofort einen Krankenwagen gerufen hat. Alles andere ist für mich als objektiver Arzt zunächst mal eine Hypothese.“

      Amelies ganzer Körper bebt vor Wut. „Sie … Sie haben ja keine Ahnung, was mein Stiefvater für ein Mistkerl ist!“, stößt sie hervor. „Er hat meine Mutter und mich jahrelang unter Drogen gesetzt. Er hat …“

      Sie stockt. Dr. Johannsen mustert sie, wie ein Schmetterlingssammler einen seltenen Falter betrachten würde.

      „Aha. Was genau hat er dir angetan, Amelie?“

      Ihr wird plötzlich übel. „Ich … ich muss jetzt gehen“, sagt sie und steht auf.

      Der Arzt erhebt sich ebenfalls. „Ach so. Aber du kannst jederzeit wiederkommen. Ich kann dir helfen, deine schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten. Ich kann dich von der Last befreien, die du mit dir herumträgst, und dir ein unbeschwertes Leben ermöglichen.“

      Amelie blinzelt ihre Tränen beiseite. Sie hat plötzlich Angst vor diesem Psychiater. Ohne ein Wort verlässt sie den Raum, durchquert das Vorzimmer und tritt auf den Flur. Sie wendet sich nach rechts in Richtung des Empfangs, als plötzlich hinter ihr laute Stimmen zu hören sind.

      „Achtung! Die Tür!“

      „Sedieren! Sofort sedieren!“

      „Ich versuch’s ja, aber ich kann ihn nicht …“

      Amelie fährt herum. Die Metalltür mit dem Warnschild fliegt auf. Ein älterer Mann in einem Bademantel stürmt in den Flur, dicht gefolgt von Pfleger Bertram und einer älteren Frau in der weißen Kleidung einer Pflegerin.

      „Sie haben ihn unter Drogen gesetzt!“, ruft der Mann. „Sie halten ihn gegen seinen Willen hier gefangen! Du musst ihn hier rausholen, Amelie!“

      „Jetzt reicht es aber, Karl!“, brüllt Bertram. „Diesmal wird das ernste Konsequenzen haben, das schwöre ich dir!“ Er packt den Mann im Bademantel von hinten und umklammert seine Brust, während die Frau eine Spritze in den Oberschenkel des Patienten rammt.

      Karl scheint das alles eher amüsant als bedrohlich zu finden. Er zwinkert Amelie zu. „Wir sehen uns!“

      Seine Augen rollen nach oben und er sackt in sich zusammen. Mit vereinten Kräften zerren die Pfleger ihn zurück in den Patiententrakt.

      „Bitte entschuldige!“, sagt Dr. Johannsen, der ebenfalls auf den Flur getreten ist. „Das hätte nicht passieren dürfen. Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind eigentlich sehr gut. Aber manchmal schaffen es die Patienten doch, uns auszutricksen.“

      „Wer … wer war das?“, fragt Amelie.

      „Karl? Der ist schon lange mein Patient. Er leidet unter paranoider Schizophrenie. Er hält sich für Gott.“

      „Für Gott?“

      „Nun ja, nicht ganz, jedenfalls nicht im religiösen Sinn. Er ist Schriftsteller. Er glaubt, dass er sich all das hier nur ausgedacht hat – die Klinik, dich, mich. Wie ich schon sagte, unser Gehirn konstruiert sich manchmal seltsame Bilder der Wirklichkeit.“

      Amelie nickt verwirrt. Sie lässt sich von Dr. Johannsen bis zum Ausgang begleiten. Gedankenverloren geht sie zur Bushaltestelle. Im Büro des Arztes war sie noch fest davon überzeugt, dass er sie anlügt. Doch auf einmal ist sie sich nicht mehr so sicher. Ein Schriftsteller, der glaubt, er habe sich die Welt ausgedacht, das ist wirklich verrückt. Aber für diesen Karl ist es wahrscheinlich eine ganz plausible Sichtweise.

      Was, wenn auch sie sich irrt? Was, wenn das, was sie für die Wirklichkeit hält, gar nicht die Realität ist – jedenfalls nicht in jeder Hinsicht? Auch ihre Mutter lebt offensichtlich in ihrer eigenen Welt, in der ihre Angst die Wahrnehmung verzerrt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sie Amelie belogen hat?

      Enttäuschung macht sich in ihr breit, als ihr klar wird, dass sie nichts tun kann, um Marko zu helfen. Sie kann nur hoffen, dass Dr. Johannsen trotz seiner merkwürdigen Art ein guter Arzt ist. Den ganzen Weg hierher hätte sie sich sparen können. Immerhin weiß sie jetzt, dass ihr Stiefvater immer noch hinter Schloss und Riegel sitzt. Am besten, sie fährt nach Hause ruft ihre Mutter an.

      Als sie schon im Bus sitzt, läuft noch einmal die Szene in der Klinik vor ihrem geistigen Auge ab. Sie erinnert sich an die Worte des Mannes im Bademantel: Sie haben ihn unter Drogen gesetzt! Sie halten ihn gegen seinen Willen hier gefangen! Du musst ihn hier rausholen, Amelie!

      Amelie erstarrt. Dieser Karl mag ja verrückt sein, aber woher kannte er ihren Namen?

      7.

      Um die nächstgelegene Festung zu finden, werfe ich eines der Schattenaugen. Es zischt ab wie eine Silvesterrakete, wobei es eine violett glitzernde Spur hinterlässt. Auf dem Gipfel seiner Flugbahn verharrt es einen Moment in der Luft, bevor es mit einem kaum hörbaren Plopp verschwindet. Mist!

      Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich dieses Auge mehrfach verwenden kann – normalerweise zerplatzen sie nicht gleich beim ersten Mal. Aber jetzt weiß ich wenigstens, in welche Richtung ich gehen muss. Das Wetter ist schön, die Landschaft sanft und hügelig, und ich würde ein Liedchen pfeifen, wenn ich wüsste, wie ich meine aufgemalten Lippen schürzen kann. Ich durchwandere eine Wüste und klettere über ein steiles Gebirge. Auf der anderen Seite liegt ein Wald, in dem Riesenpilze aufragen. Auch diesen durchquere ich ohne besondere Ereignisse, wobei mir der Kompass hilft, die Richtung beizubehalten.

      Als der Abend anbricht, errichte ich eine primitive Hütte und warte die Nacht ab, während draußen Zombies und Skelette herumgeistern.

      Am nächsten Morgen werfe ich erneut ein Schattenauge. Diesmal habe ich mehr Glück: Das Auge zerplatzt nicht, sondern fällt zu Boden, so dass ich es aufsammeln und wiederverwenden kann.

      Gegen Mittag sehe ich von einem Hügel aus in der Ferne Häuser. Sie liegen nicht genau auf meinem Weg, aber ich beschließe, einen kleinen Abstecher zu machen. Wer weiß, vielleicht kann ich dort meine Smaragde gegen etwas Nützliches eintauschen.

      Doch seltsam, als ich das Dorf erreiche, scheint es leer zu sein. Dabei hätte ich schwören können, aus der Ferne die Bewohner herumwuseln zu sehen. Merkwürdig. Anscheinend gibt es doch leichte Unterschiede zwischen dieser Welt in meinem Kopf und der echten Spielwelt. Der Gedanke bereitet mir Unbehagen, ohne dass ich genau sagen könnte, warum.

      Das Dorf ist relativ groß und verfügt sogar über eine Kirche. Vielleicht sind die Dorfbewohner gerade zum Gottesdienst versammelt? Doch die Kirche ist leer.

      Als ich wieder auf die Straße trete, glaube ich, hinter einem Fenster eine Bewegung wahrzunehmen. Im Inneren des Hauses treffe ich auf einen Dorfbewohner mit charakteristischer Knollnase. Seine braune Robe weist ihn als Bauern aus. Als er mich sieht, scheinen sich seine schielenden Augen für einen Moment zu weiten, und er macht ein erschrecktes Geräusch, das wie „Au!“ klingt. Bevor


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