Flucht aus der Würfelwelt. Karl Olsberg

Flucht aus der Würfelwelt - Karl Olsberg


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Er flitzt auf seinen Stummelbeinchen davon, als sei ein Zombie hinter ihm her.

      „Halt, warte doch mal!“, rufe ich, doch der Dorfbewohner rennt weiter in Richtung eines Waldes. Im Schatten großer Eichen nehme ich Bewegungen wahr. Sind da etwa noch mehr Knollnasen versteckt? Doch als ich den Waldrand erreiche, ist nichts mehr von ihnen zu sehen. Auch der Dorfbewohner, der vor mir geflüchtet ist, scheint spurlos verschwunden. Was haben die bloß gegen mich? Normalerweise sind Dorfbewohner friedlich und freuen sich, wenn man mit ihnen Handel treibt.

      Schließlich gebe ich die Verfolgung auf. Ohne lange über das seltsame Verhalten der Dorfbewohner nachzudenken, setze ich meinen Weg fort. Als sich die Sonne dem Horizont zuneigt, zeigt das Schattenauge eine andere Richtung an. Ich muss der Festung bereits recht nahe sein. Nachdem ich etwa hundert Schritte gegangen bin, erreiche ich eine weite Ebene. Noch einmal werfe ich ein Schattenauge, das jedoch nicht wie bisher in die Luft schießt, sondern fast senkrecht im Boden verschwindet. Bingo!

      Ich fange an zu graben. Es dauert nicht lange, bis ich auf ein Höhlensystem stoße, in dem mich eine ungewöhnlich große Anzahl von Skeletten, Zombies und Kriechern erwartet. Nachdem ich ihnen den Garaus gemacht habe, entdecke ich verräterische moosbewachsene Blöcke in der Höhlenwand. Mit der Spitzhacke schlage ich eine Öffnung hinein und gelange in eine alte Bibliothek. Augenblicklich werde ich von einem ganzen Schwarm Silberfischchen attackiert. Ein einziges dieser kleinen, insektenartigen Biester wäre harmlos, aber ein halbes Dutzend von ihnen könnten einem weniger gut ausgerüsteten Abenteurer durchaus gefährlich werden.

      Nachdem ich das Ungeziefer beseitigt habe, durchsuche ich die Bibliothek und finde in einer Büchertruhe ein Zauberbuch. Als ich es in meinem geistigen Inventar aktiviere, glüht mein Bogen kurz auf und zeigt danach einen magischen Schimmer. Ich bin nicht sicher, welchen Effekt das Zauberbuch auf die Waffe gewirkt hat, aber er wird im Kampf gegen den Drachen sicher nützlich sein.

      Eine Wohngemeinschaft aus Höhlenspinnen, Zombies, Kriechern und Skeletten scheint sich durch meine Erkundung der Festung gestört zu fühlen. Doch wer gut genug gerüstet ist, um gegen einen Drachen zu kämpfen, für den sind solche Normalomonster eher lästig als gefährlich.

      Endlich erreiche ich im Untergeschoss der Festung den Raum, den ich gesucht habe. Er ist länglich und hat in der Mitte ein Podest, zu dem eine Steintreppe hinaufführt. Auf der Treppe steht ein brennender Käfig, in dem ein kleines Silberfischchen herumwirbelt – ein Monsterspawner. Folg-lich wimmelt es in diesem Raum von den Plagegeistern.

      Es dauert nicht lange, bis ich die Tiere beseitigt und den Spawner durch Platzieren von ein paar Fackeln deaktiviert habe. Nun kann ich mich dem Endportal widmen, das sich oben auf dem Podest befindet. Es besteht aus einem Lavabecken, das von zwölf speziellen Steinblöcken umgeben ist. Sie haben oben Einbuchtungen, in die jeweils genau ein Schattenauge passt. Alle sind leer.

      Ich platziere zwölf Schattenaugen auf den Blöcken. Ein summendes Geräusch ertönt, als ich das letzte Auge in seine Fassung lege, und über der Lava entsteht ein schwarzes Feld. Nein, eigentlich ist es kein Feld, sondern ein Loch. Ein unendlich tiefes, schwarzes Loch …

      Wie gelähmt stehe ich am oberen Ende der Treppe und starre in die Finsternis. Ich kann meinen Herzschlag im Hals spüren, obwohl mein Kastenkörper gar keinen Hals hat. Die Schwärze zieht mich magisch an und erzeugt gleichzeitig panische Angst in mir. Dies ist das Ende! Ich werde sterben, wenn ich mich in diese Dunkelheit stürze!

      Ich weiß nicht, wie lange ich so verharre, gefangen zwischen dem Wunsch, diesen Alptraum zu beenden, und der Angst vor der Auslöschung meiner Existenz. Plötzlich wird mir schwindelig, und meine Kastenbeine werden weich wie Schaumgummi. Ich kippe vornüber in die Dunkelheit, zu entsetzt, um zu schreien.

      8.

      Die Sonne ist längst untergegangen, und es ist kühl geworden. Amelie zittert leicht – ob vor Kälte, Aufregung oder Furcht könnte sie nicht sagen. Sie steht an dem hohen Zaun, der die Klinik umgibt, und beobachtet das Gelände. Alles ist ruhig. Die meisten Fenster sind noch erleuchtet.

      Sie haben ihn unter Drogen gesetzt! Sie halten ihn gegen seinen Willen hier gefangen! Du musst ihn hier rausholen, Amelie!

      Kann sie den Worten des Mannes im Bademantel trauen? Wenn es stimmt, was Dr. Johannsen gesagt hat, dann ist er ein verrückter Schriftsteller, der sich für allmächtig hält. Wahrscheinlich hat er nur Unsinn geredet. Aber er kannte Amelies Namen, und das bedeutet, er muss mit Marko gesprochen haben. Sie muss herausfinden, was mit ihm los ist! Vielleicht kann sie ihn von außen durch ein Fenster sehen. Es würde ihr genügen, zu wissen, dass es ihm gutgeht.

      Amelie war nicht zuhause und hat ihre Mutter nicht angerufen. Wozu auch? Sie hätte ohnehin nur eine Menge Ärger bekommen und ganz sicher nicht die Erlaubnis, das zu tun, was sie vorhat. Also ist sie einfach nach zwei Stationen wieder aus dem Bus ausgestiegen und so lange durch die Villengegend gewandert, bis es endlich dunkel wurde. Nun muss sie irgendwie über diesen Zaun klettern. Er ist mindestens zwei Meter hoch und oben mit mehreren Bahnen Stacheldraht gesichert, fast wie bei einem Gefängnis. In der Nähe steht außerhalb des Klinikgeländes ein alter Kastanienbaum, dessen Äste über den Zaun ragen. Wenn es ihr gelingt, auf den Baum zu klettern, könnte sie von einem der unteren Äste in den Garten springen. Allerdings hätte sie dann keinen Rückweg.

      Die andere Seite der Straße, die an dem Klinikgelände vorbeiführt, ist von Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten gesäumt. In einem davon entdeckt Amelie einen kleinen, grün gestrichenen Schuppen. Vielleicht findet sie darin ein Seil, das sie borgen kann? Die Gelegenheit scheint günstig: Die abgelegene Straße ist leer, und auch hinter den Fenstern ist niemand zu sehen. Amelie springt über einen niedrigen Gartenzaun und huscht in den Schatten zu dem Schuppen. Er ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Mist!

      Neben dem Haus steht eine Trommel mit einem aufgerollten Gartenschlauch. Das müsste funktionieren. Sie löst das Ende des Schlauchs von dem Wasserhahn, an den es angeschlossen ist. Die Trommel ist ziemlich schwer. So schnell sie kann, schleppt sie den Schlauch durch den Vorgarten.

      Plötzlich bellt ein Hund im Inneren des Hauses. Im selben Moment kommt ein Auto die Straße entlang. Mitten im Vorgarten, die Schlauchrolle in beiden Händen, wird Amelie vom Scheinwerferkegel des Wagens erfasst. Doch das Auto fährt vorbei, und niemand stürmt wütend aus dem Haus, um sie des Diebstahls zu bezichtigen.

      Erleichtert huscht sie mit dem Schlauch zu der Kastanie. Schon als kleines Kind ist sie immer gern auf Bäume geklettert und hat eine gute Körperbeherrschung. Sie zieht Schuhe und Strümpfe aus, so dass ihre Zehen besseren Halt an der Rinde finden. Dann rollt sie den Schlauch ab, wobei die Trommel ziemlich laut quietscht. Schließlich klemmt sie das Schlauchende zwischen die Zähne und krallt ihre Finger in die Unebenheiten des Stammes. Stück für Stück zieht sie sich an dem Baum empor. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, erstarrt sie, doch keiner der Fahrer scheint sie zu bemerken.

      In gut drei Metern Höhe erreicht Amelie einen Ast, der über den Zaun hinausragt und dick genug scheint, um sie zu tragen. Sie zieht den Schlauch hinauf, soweit es geht, und klettert den Ast entlang, bis sie über dem Klinikgelände ist. Dort wickelt sie den Schlauch ein paar Mal um den Ast, sichert ihn mit einem Knoten und lässt das Ende in den Garten fallen. Es reicht fast bis zum Boden. Rasch hangelt sie sich daran herab.

      Im Schatten eines Busches kauernd lauscht sie in die Dunkelheit. Wenn jemand zufällig aus dem Fenster sieht, wird ihm bestimmt der knallgelbe Schlauch auffallen, der vom Baum herabhängt wie eine tote Schlange. Doch es rührt sich nichts. Schließlich fasst sie Mut und schleicht sich zum Klinikgebäude, wobei sie jede Deckung ausnutzt. Das Gras unter ihren nackten Füßen ist kalt und feucht.

      Das erste Fenster, das sie erreicht, ist dunkel, doch im zweiten brennt Licht. Vorsichtig späht sie hinein. Ein junger Mann in weißer Pflegerkleidung sitzt an einem Computer. Zum Glück ist er so in das Kartenspiel auf seinem Bildschirm vertieft, dass er Amelie nicht bemerkt.

      Die nächsten drei Fenster gehören zu einem großen Gemeinschaftsraum, in dem mehrere Tische stehen. In einer Sitzgruppe vor dem Fernseher sitzen einige Patienten und schauen sich einen alten Zeichentrickfilm an. Der verrückte Schriftsteller ist nicht dabei.


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