STRANGERS IN THE NIGHT. Jon Pan
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Prolog
Das Haus steht an einem Hang. Ich gehe darauf zu. Links sehe ich das villenartige Gebäude eines Nobelrestaurants, dessen Fenster beleuchtet sind. Die Garage, die zu dem Haus gehört, ist verschlossen. Nacht. Hinter mir fährt eine Straßenbahn vorbei. Ich erreiche den Briefkasten. Er ist mit H. R. angeschrieben. Eine Steintreppe führt zur Haustür.
Ich bleibe einen Moment lang stehen. Kein Mensch ist zu sehen. Meine Hand berührt die Haustür. Sie ist unverschlossen, geht auf. Im Flur brennt Licht. Ich biege links ab, komme am Fuß einer Holztreppe vorbei, betrete ein Zimmer, in dem hellblaue Polstermöbel stehen. Farbige Bilder an den Wänden. Direkt vor mir führt eine Glastür nach draußen, wo die Dunkelheit der Nacht wie eine schwarze Fläche ruht.
Ich wende mich ab und steige die Treppe hoch. Bad, Zimmer, Schlafzimmer, ein kleines Zimmer, und wieder Treppe, einen Stock höher.
Der Raum direkt unter dem Dach ist lang. Ich trete ein. Rechts, direkt an der Wand neben der Tür, steht ein Klavier. Auf dem Boden liegen Notenblätter. Auf einem Tisch steht ein Spulen-Tonbandgerät. Das erhöhte Fenster reflektiert das Licht der Deckenlampe. Hinter den Scheiben liegen die Dächer der Stadt. Wie sehr hatte er diesen Ausblick gemocht!
Die Stille hier drinnen ist unerträglich. Ich strecke die Hand aus, will den Klavierdeckel anheben, lasse es bleiben.
Langsam steige ich die Treppe hinunter. Die Tür des kleinen Zimmers steht offen. Näharbeiten liegen herum. An der einen Wand hängen Fotografien, alle mit Widmungen versehen, meist schwarze, geschwungene Schriften, die teilweise übers halbe Bild hinwegfliegen.
Plötzlich ertönt eine gesungene Melodie. Laut bricht es durch die Wände, rollt wie Wind die Treppe hoch, fließt von oben die Treppe herab, strömt durch offen stehende und geschlossene Türen.
Strangers in the night exchanging glances, wond’ring in the night what were the chances, we’d be sharing love before the night was through.
Ich gehe ins untere Stockwerk, steige weiter in den Keller hinunter. Dort gibt es, da das Haus in einen Hang gebaut ist, eine Tür zur weiter vorne liegenden Garage.
Die Musik klingt unvermindert laut weiter. In der Garage steht ein dunkelroter Jaguar.
»Herbert!«, rufe ich. »Bist du da?«
Nur Musik.
Ich gehe nach oben. Es ist Zeit, um das Haus zu verlassen.
Strangers in the night, two lonely people we were. Strangers in the night up to the moment, when we said our first hello.
Draußen tauche ich in Stille ein. Die Tür hat die Musik wie eine Schleuse abgeschnitten. Nach einigen Schritten drehe ich mich um. Das Fenster oben unter dem Dach ist hell.
Er lebt, denke ich. Und es hat ihn umgebracht.
Gespräch mit Ruth
Wir sitzen auf der Veranda hinter dem Haus und essen italienische Teigwaren. Leichte Kost, wie Ruth sagt. Es ist August, und seit Tagen rollen wir die Vergangenheit auf. Manchmal rennen die Hunde die Hecke entlang, bellen wie verrückt und sind kaum zu beruhigen. Die Gespräche spannen sich um ein ganzes Leben. Vieles habe ich gekannt. Neues kommt hinzu, füllt Lücken oder verwirrt. Oft geraten die Zeiten durcheinander. Alte Gefühle tauchen auf, wir suchen nach Worten, nach Wahrheiten, die in uns klar sind. Es ist nicht leicht, alles zu ordnen. Es ist ein warmer Sommerabend. Die Hunde haben sich beruhigt.
Wir trinken Tee, lehnen uns zurück, genießen den Garten.
»Sie waren wie Brüder«, sagt Ruth. Und fügt hinzu: »Vielleicht wie Kain und Abel.«
»Dann hat der eine den anderen umgebracht?«, frage ich.
»Nein«, antwortet Ruth. »So kann man es nicht sehen.« Sie denkt nach. »Es bestand eine starke Beziehung zwischen den beiden. Das lief jahrelang so. Und als Herbert sich endlich von ›Fips‹ (Kaempfert wurde von Freunden Fips genannt) lösen wollte, war es zu spät. Beide wollten sich voneinander lösen, doch es funktionierte nicht.«
»Warum nicht?«
»Es war wie bei einem alten Ehepaar: Keiner will den anderen mehr sehen, und trotzdem bleiben sie zusammen, vielleicht weil es einfach die beste Lösung ist.«
Ich schweige.
»Für Herbert war der Erfolg nicht so wichtig«, sagt Ruth. »Es war für ihn so etwas wie ein Freiraum. Darüber hinaus wollte er nichts. Dass er die ganzen Jahre hinter Fips stand, machte ihm im Grunde nichts aus. Bis auf diese Geschichten ...«
Wir schweigen.
»Weißt du, was Herbert einmal sagte?«, fragt Ruth plötzlich. »Gutmütigkeit wird oft mit Dummheit gleichgesetzt. Herbert war nicht dumm. Darum kränkte es ihn mehr, dass er in seiner Gutmütigkeit betrogen wurde.«
»Aber er überspielte das auch, oder?«
»Ja. Vergessen hat er es jedoch nie.«
»Und das nagte in ihm.«
»Ja, es nagte in ihm, bis zuletzt. Der letzte Vorfall geschah noch wenige Tage vor seinem Tod.«
Davon später.
»Wie verlief deine erste Begegnung mit Kaempferts?«, will ich von Ruth wissen.
»Mit Kaempfert selbst verstand ich mich auf Anhieb«, sagt sie. »Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mit seiner Frau Hanne entwickelte sich das problematischer. Sie hatte einmal einen enormen Wortschatz. Hochdeutsch war für mich ja eine Fremdsprache, in der ich nicht so schnell reagieren konnte. Und bei Hanne musste man reagieren, denn sie suchte diese verbale Form von Auseinandersetzung. Sie verstand es, mich in Situationen zu bringen, in denen ich mich irgendwann hilflos fühlte. Sicher nutzte sie das nicht aus, denn sie sprach auch so mit Herbert und Fips. Heute könnte ich besser damit umgehen. Dafür war ich damals zu jung. Ich befand mich plötzlich in einem Kreis von Menschen, die alle – schon vom Krieg her – viel erlebt hatten. Auch Hanne hatte viel durchgemacht, in Berlin, nach dem Krieg, als die Russen ihren Sieg auskosteten. Ich kam aus der Schweiz, wo es mir immer recht gut gegangen war. Herbert, Fips und Hanne mussten ums Überleben kämpfen, wovon ich keine Ahnung hatte. Allein schon deshalb wollte oder konnte sie mich nicht akzeptieren.«
»Darum auch dieser Ehrgeiz bei den Kaempferts?«, frage ich.
»Richtig«, bestätigt Ruth. »Solche Erlebnisse formen gewisse Menschen. Kaempferts wollten raus aus dem Dreck. Hanne wollte eine tolle Wohnung. Es war ihr gleichgültig, ob ein Tisch mehr kostete als Fips im Moment verdiente. Dann gab es eben nichts zu essen. Ihr Kommentar dazu: ›Wenn du nichts arbeitest, hast du nichts zu essen.‹«
»Das klingt hart.«
»Sie war hart. Sie verglich sich mit einer aggressiven Journalistin aus Berlin – eine Art Elsa Maxwell –, die ganz schön die Leute in der Hand hatte. Hanne hatte mir auch in bezug auf Herbert gedroht. Klar und deutlich: Ich müsse aufpassen, sonst mache sie mich fertig! So in dem Sinn, dass sie es nicht zuließe, wenn ich ihm irgendwie schaden würde.«
»Steckte Eifersucht dahinter?«
»Herbert kam damals mit mir als junges Ding an«, erinnert sich Ruth. »Das hat sie sicher gestört. Doch sie war einfach so. Es war für mich schwer, mit ihr zurechtzukommen. Was ich von Fips nicht sagen kann.«
»Du mochtest Fips also?«
»Ja.«
»Trotz der ganzen Betrügereien?«
»Damals gab es ja noch nichts, das man ihm hätte vorwerfen können.«
»Und später?«, frage ich weiter.
»Fips hat das vielleicht alles ja auch nicht gewollt«, antwortet mir Ruth. »Irgendwann konnte er nicht mehr zurück. Er hätte einfach zu viel zugeben müssen. Und er wurde auch von den Amerikanern gedrängt,