Angst in Nastätten. Ute Dombrowski
einer Weile, in der beide geschwiegen hatten, sagte er: „Es tut mir leid, dass ich so schnell weg bin gestern.“
„Ah ja. Und jetzt?“
„Jetzt wollte ich mich entschuldigen.“
„Angenommen.“
„Und … ich …“
Er zögerte.
„Willst du mir etwa sagen, dass du den Fall nun doch untersuchst?“
„Ja, das will ich dir sagen. Aber ich glaube immer noch, dass es sich um einen Scherz handelt. Verstehst du das?“
Undine nickte.
„Gut, du denkst, es ist ein Scherz und ich denke, es ist ernst gemeint. Aber es ist trotzdem ein Fall.“
„Genau. Ich werde ermitteln, aber nicht, weil ich glaube, dass jemand Nastätten in die Luft jagt, sondern weil er Unruhe verbreitet und mit etwas droht, was Mist ist.“
„Dann sind wir uns ja ein Stück nähergekommen. Sehr gut. Wo fangen wir an?“
Undine sah, dass sich Reiner zusammenriss, denn sie wusste schon, dass er nicht mit ihr zusammenarbeiten würde. Doch sie wollte ihn noch ein bisschen ärgern, weil er einfach so weggerannt war, statt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das musste er lernen, wenn die Sache mit ihnen eine Chance haben sollte.
„Erstens ermittle ich, zweitens frage ich dich, wenn ich deine Hilfe möchte.“
Das war ein Zugeständnis, mit dem Undine gut leben konnte. Zufrieden lehnte sie sich zurück.
„Bekomme ich auch einen Kaffee?“, fragte Reiner grinsend.
„Gerne, komm mit rein. Da ist es kühler.“
Er folgte ihr ins Haus und setzte sich im Wohnzimmer an den Tisch. Es gibt keinen einzigen Balken, der gerade ist, dachte er, als Undine die Tasse vor ihm absetzte.
„Möchtest du ein Stück Knäckebrot?“
„Diese Pappscheiben ohne Geschmack? Wenn es sein muss, aber nur mit viel Honig.“
Undine lachte, denn Reiner war wirklich reumütig zurückgekehrt, wenn er sogar ihr Backwerk essen wollte. Sie kam mit einem Teller Kekse, die sie für Gäste bereithielt, aus der Kochecke zurück und setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Ich schaue mir morgen mit Lene den neuen Frauenarzt an. Er richtet seine Praxis und die Wohnung ein und möchte bei mir etwas Keramik kaufen.“
„Du hast sicher Verständnis dafür, dass ich da nicht hingehen werde.“
„Das ist ja klar, was sollst du auch beim Frauenarzt. Aber es ist wichtig für Nastätten, dass es einen guten gibt. Morgen schauen wir uns mal die Praxis an und helfen Frank beim Einrichten.“
„Frank?“
„Frank Keusert, der Mann von Anna aus Holzhausen.“
„Ah, die vorlaute Lehrerin.“
„Genau die. Frank ist Techniker und hilft dem Mann auch sonst, weil sie sich gut verstehen. Das hat er gesagt, als er vorhin hier war und ein bisschen Geschirr mitgenommen hat.“
„Sie müssen sich sehr gut verstehen, wenn er das an einem Sonntag für ihn tut.“
Undine sah Reiner nachdenklich an.
„Hast du sowas wie einen Freundeskreis?“
„Nein, schon lange nicht mehr. Als ich noch verheiratet war, gab es ein paar Leute, mit denen wir uns getroffen haben, aber nach meiner Scheidung bin ich weg aus Nastätten und damit hatte sich das auch erledigt. Sie waren wohl eher die Freunde meiner Frau gewesen. Ich habe meinen Job, der nimmt genug Zeit in Anspruch.“
„Warum hast ausgerechnet du einen Brief bekommen? Du wohnst nicht mal hier.“
Reiner war aufgestanden und stand nun am Fenster. Dieser Gedanke war auch ihm immer wieder gekommen, aber er wusste keine Antwort.
„Ich habe schon viel darüber nachgedacht. Der Grund muss in der Vergangenheit liegen. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung.“
Jetzt setzte sich Reiner wieder und klopfte nervös auf die Tischplatte. Es musste so sein, nur so machte das Ganze einen Sinn.
Undine erklärte sachlich: „Der wusste ganz sicher nicht, dass du aus Nastätten weg bist. Also muss es jemand sein, der in die Zeit vor deiner Scheidung gehört. Wen hast du denn da verärgert?“
Nun mussten die beiden lachen, denn Undine konnte sich vorstellen, dass mit Reiner nie gut Kirschen essen gewesen war. Wenn sie daran dachte, wie ihre erste Begegnung abgelaufen war, ahnte sie, dass er ein alter Sturkopf war, dem man besser aus dem Weg ging. Dagegen war er jetzt sanft wie ein Lamm.
„Ich lege eine Liste an. Oder besser, ich schreibe ein Buch.“
Er lachte immer noch, als ihm Undine allen Ernstes einen Schreibblock und einen Kugelschreiber hinlegte.
„Was soll das denn? Ich muss erstmal nachdenken.“
„Na, beim Nachdenken helfen ein Zettel und ein Stift immer, denn man kann die Gedanken, die einem in den Sinn kommen, sofort festhalten. So verschwinden sie auch nicht wieder in den tiefen Höhlen der Vergesslichkeit. Schließlich sind wir beide in einem gewissen Alter, da kann das mal passieren.“
Reiner nahm den Stift und zog den Block zu sich heran.
Er dachte laut: „Wenn ich an meine Fälle denke, die in Nastätten waren, dann sind das nur Kleinigkeiten, dafür droht man nicht mit Bomben. Diebstahl, Einbruch, Schlägereien, Betrug. Ein Mord. Häusliche Gewalt.“
„Wem bist du denn privat auf den Schlips getreten?“
„Weißt du, Undine, da gibt es einen riesengroßen Denkfehler.“
„Welchen?“
„Die Verbindung meiner Fettnäpfchen mit denen der anderen Briefempfänger. Was zum Beispiel sollte ein Mensch, der mich hasst, mit Jasmin oder Lene zu tun haben?“
Jetzt war Undine überrascht, denn Reiner hatte recht. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht.
„Dann fangen wir doch mal bei den Gemeinsamkeiten an, die euch alle verbinden.“
„Wer sagt dir denn, dass es nicht noch mehr Briefe gibt?“
„Wer sagt dir denn, dass der Briefschreiber nicht mächtig alt ist und ihr an sich gar nichts dafür könnt, sondern eure Eltern einen Fehler begangen haben?“
Die beiden schwiegen, denn je mehr sie nachdachten und nach Erklärungen suchten, desto mehr Fragen warfen sie auf. Einige hatte Reiner auf dem Block notiert.
„Dann müssen wir zuerst herausfinden, ob es bei allen noch Eltern gibt und was diese über die Briefe denken“, sagte Undine.
„Gut, in diesem Falle darfst du mir helfen, jedoch einfach nur, weil du hier so viele Leute kennst. Es wird keine Befragung der halben Bevölkerung von Nastätten durch dich geben. Das ist mein Job, in Ordnung?“
Undine seufzte, sagte aber zu. Reiner lächelte freundlich.
„Und jetzt lade ich dich auf ein Eis ein. Mittagessen braucht bei der Hitze kein Mensch. Hast du Lust?“
„Gerne, wir laufen aber zum Eisladen.“
Sie machten sich auf den Weg und als sie im Eiscafé saßen, musste Reiner an ihre letzte Verabredung denken.
„Hoffentlich kommt jetzt nicht wieder Günther um die Ecke.“
11
Jennifer hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehabt, auf der Undine ihr alle neuen Erkenntnisse vom Wochenende berichtete. Sie war bei einer Freundin gewesen und gestern erst spät heimgekommen. Das Handy war stumm geblieben, denn sie hatte das Ladekabel vergessen.