Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
rief Fjodor Pawlowitsch. »Was kann er denn absolut nicht und unter keinen Umständen? Darf ich eintreten, Ehrwürden, oder nicht? Nehmen Sie noch einen Tischgenossen an?«
»Ich bitte von ganzem Herzen darum«, antwortete der Abt. »Meine Herren!« fügte er hinzu. »Ich möchte Sie aus ganzer Seele bitten, Ihre zufälligen Zwistigkeiten beiseite zu lassen und sich im Gebet, in Liebe und in verwandtschaftlicher Eintracht bei unserem friedlichen Mahl zu vereinigen.«
»Nein, nein, das ist unmöglich!« schrie Pjotr Alexandrowitsch außer sich.
»Wenn es für Pjotr Alexandrowitsch unmöglich ist, dann ist es auch für mich unmöglich, und ich werde nicht bleiben. In dieser Absicht, bin ich hergekommen. Ich werde von jetzt an überall mit Pjotr Alexandrowitsch zusammen sein: Wenn Sie weggehen, Pjotr Alexandrowitsch, gehe auch ich weg. Wenn Sie bleiben, bleibe ich ebenfalls. Mit der verwandtschaftlichen Eintracht haben Sie ihm einen besonders empfindlichen Stich versetzt, Vater Abt! Er gibt nicht zu, mein Verwandter zu sein. Nicht wahr, Herr von Sohn? Ach, da steht ja Herr von Sohn. Guten Tag, Herr von Sohn!«
»Meinen Sie mich damit?« murmelte der Gutsbesitzer Maximow erstaunt.
»Natürlich meine ich dich«, schrie Fjodor Pawlowitsch. »Wen sonst? Der Vater Abt kann doch nicht Herr von Sohn sein.«
»Aber ich bin auch nicht Herr von Sohn! Ich heiße Maximow!«
»Nein, du bist Herr von Sohn. Wissen Sie, Ehrwürden, was es mit Herrn von Sohn für eine Bewandtnis hat? Es war einmal ein Kriminalprozeß: An einer Stätte der Unzucht – so werden diese Orte bei Ihnen genannt, glaube ich – war ein Herr von
Sohn ermordet und beraubt und trotz seines ehrwürdigen Alters in eine Kiste verpackt worden, und diese Kiste hatte man dann zugenagelt und als Passagiergut im Gepäckwagen von Petersburg nach Moskau geschickt. Und während die Kiste zugenagelt wurde, sangen unzüchtige Tänzerinnen Lieder und spielten dazu auf der Laute, das heißt auf dem Klavier. Also dieser selbe Herr von Sohn ist er. Er ist von den Toten auferstanden, nicht wahr, Herr von Sohn?«
»Was soll denn das heißen?« riefen mehrere Priestermönche.
»Wir wollen gehen!« rief Pjotr Alexandrowitsch, an Kalganow gewandt.
»Nein, erlauben Sie!« unterbrach ihn Fjodor Pawlowitsch kreischend und trat dabei noch einen Schritt weiter ins Zimmer. »Erlauben Sie mir, zu Ende zu reden. Zum Schaden meines Rufes haben Sie erzählt, ich hätte mich dort in der Zelle respektlos benommen, vor allem mit dem, was ich über die Gründlinge gesagt habe. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, mein Verwandter, hat in seiner Rede gern plus de noblesse que de sincerité4. Bei mir ist es umgekehrt, ich habe in meiner Rede gern plus de sincerité que de noblesse5, und ich spucke auf die noblesse! Nicht wahr, Herr von Sohn? Erlauben Sie, Vater Abt, ich bin zwar ein Possenreißer und spiele den Possenreißer, aber ich bin doch ein Ritter mit Ehre im Leibe und will mich aussprechen. Ja, ich bin ein Ritter mit Ehre im Leibe, aber in Pjotr Alexandrowitsch steckt nur Eigenliebe, mit der ist er vollgestopft, mit weiter nichts. Ich bin vielleicht nur deswegen hierhergefahren, um mir alles anzusehen und mich auszusprechen. Ich habe hier einen Sohn, Alexej, der sucht seine Seele zu retten, ich bin der Vater, ich mache mir Sorgen um sein Schicksal, und es ist meine Pflicht, mir Sorgen darum zu machen. Ich habe alles mitangehört und meine Rolle gespielt und im stillen meine Beobachtungen angestellt, und jetzt will ich Ihnen auch den letzten Akt der Vorstellung vorführen. Wie geht es bei uns zu? Was fällt, das bleibt liegen. Was einmal gefallen ist, das liegt für alle Zeit da. Ja, so ist das! Ich will aber aufstehen. Fromme Väter, ich bin über Sie empört. Die Beichte ist ein großes Sakrament, vor dem auch ich mich willig und ehrfürchtig beuge, aber dort in der Zelle fallen alle auf einmal in die Knie und beichten laut. Ist es etwa erlaubt, laut zu beichten? Von den heiligen Kirchenvätern ist die Ohrenbeichte eingeführt, nur dann wird die Beichte ein Sakrament sein, und so ist das von alten Zeiten her gewesen. So aber, wie soll ich ihm in Gegenwart aller sagen, daß ich zum Beispiel das und das ... Na, das heißt, das und das, verstehen Sie? Manchmal ist es ja unanständig, es auch nur zu sagen. Das ist doch ein Skandal! Nein, Väter, wenn man sieht, wie es hier bei Ihnen zugeht, dann möchte man beinahe lieber in die Sekte der Geißler eintreten ... Ich werde bei der ersten Gelegenheit an den Synod6 schreiben! Und meinen Sohn Alexej werde ich von hier fortnehmen!«
Hier mache ich eine Anmerkung. Fjodor Pawlowitsch hatte einmal so etwas läuten hören. Auch dem Bischof waren böse Redereien zu Ohren gekommen, nicht nur über unser Kloster, sondern auch über andere, in denen die Institution der Starzen bestand: Die Starzen würden ein zu großes Ansehen genießen, sogar zum Schaden der Stellung der Äbte; sie mißbrauchten unter anderem das Sakrament der Beichte, und so weiter, und so weiter. Alberne Beschuldigungen, die seinerzeit bei uns wie überall von selbst zusammengebrochen waren. Aber der dumme Teufel, der Fjodor Pawlowitsch gepackt hatte und an seinen eigenen Nerven immer tiefer in Schmach und Schande hineinzog, hatte ihm diese alte Beschuldigung zugeflüstert, die Fjodor Pawlowitsch nicht im geringsten begriff. Und er verstand auch nicht einmal, sie richtig vorzubringen; hinzu kam noch, daß in der Zelle des Starez diesmal niemand auf Knien gelegen und laut gebeichtet hatte, so daß Fjodor Pawlowitsch nichts Derartiges gesehen haben konnte und nur alte Gerüchte und Redereien wiederholte, an die er sich ungenau erinnerte. Doch kaum hatte er seine Dummheit ausgesprochen, fühlte er, daß er Unsinn geschwatzt hatte, und bekam plötzlich Lust, den Zuhörern und vor allem sich selbst auf der Stelle zu beweisen, daß er keinen Unsinn gesprochen habe. Und obgleich er wußte, daß er mit jedem weiteren Wort nur noch törichteres Zeug zu dem schon vorgebrachten Unsinn hinzufügte, konnte er sich nicht mehr halten und stürzte wie von einem Berg in die Tiefe.
»Was für eine Gemeinheit!« rief Pjotr Alexandrowitsch.
»Verzeihen Sie«, sagte auf einmal der Abt. »Es steht geschrieben: ›Und sie redeten gegen mich vielerlei, auch einige häßliche Dinge. Aber ich hörte alles an und sagte mir: diese Arznei hat mir Jesus gesandt, um meine eitle Seele zu heilen.‹ Und darum sprechen auch wir Ihnen unsern ergebensten Dank aus, werter Gast.« Und er verbeugte sich tief vor Fjodor Pawlowitsch.
»Papperlappapp! Scheinheiligkeit und alte Phrasen! Alte Phrasen und alte Gebärden! Die alte Lüge, die gewohnten komödienhaften Verbeugungen! Diese Verbeugungen kennen wir! ›Küsse auf die Lippen, den Dolch ins Herz!‹, wie es in Schillers ›Räubern‹ heißt. Ich liebe keine Falschheit, Väter; ich will Wahrheit! Aber die Wahrheit liegt nicht in den Gründlingen, das habe ich verkündet. Warum fastet ihr denn, ihr Mönche? Warum erwartet ihr dafür Belohnungen im Himmel? Für eine solche Belohnung würde auch ich anfangen zu fasten! Nein, du heiliger Mönch, sei im Leben tugendhaft, nutze der Gesellschaft, ohne daß du dich bei freier Kost im Kloster einschließt und eine Belohnung dort oben erwartest – das wird etwas schwerer sein! Ich kann ebenfalls klar und logisch reden, Vater Abt. Na, was haben wir denn vorbereitet?« sagte er und trat an den Tisch.
»Portwein old factory, Medoc, Abzug der Gebrüder Jelissejew. Ei, ei, meine Väter! Das hat ja wenig Ähnlichkeit mit
Gründlingen! Sieh mal an, solche Fläschchen haben die Väter auf den Tisch gestellt, hehehe! Und wer hat das alles geliefert? Der russische Bauer, der Arbeitssklave, der bringt die paar Groschen, die er mit seinen schwieligen Händen erarbeitet, hierher und entzieht sie seiner Familie und den Bedürfnissen des Staates! Ja, sie saugen das Volk aus, heilige Väter!«
»Das ist ein ganz unwürdiges Gerede von Ihnen«, sagte Vater Jossif.
Vater Paissi schwieg hartnäckig. Miussow rannte aus dem Zimmer, Kalganow folgte.
»Nun, Väter, auch ich werde Pjotr Alexandrowitsch folgen. Ich werde nie wieder zu Ihnen kommen, und wenn Sie mich auf den Knien darum bitten, ich werde nicht kommen. Tausend Rubel habe ich Ihnen geschickt, nun spitzen Sie sich wohl auf mehr, hehehe! Nein, mehr werde ich Ihnen nicht geben! Ich werde mich für meine dahingegangene Jugend und meine ganze Demütigung rächen.« Er schlug in einem fingierten Gefühlsausbruch mit der Faust auf den Tisch. »Viel hat dieses Kloster in meinem Leben bedeutet! Viele bittere Tränen habe ich um seinetwillen vergossen! Meine Frau, die Schreikranke, haben Sie gegen mich aufgehetzt. Auf sieben Synoden haben Sie mich verflucht und mich in der ganzen Umgegend schlechtgemacht! Aber das hat nun ein Ende, Väter! Wir leben jetzt im Zeitalter