Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
mir kriegen!«
Noch eine Anmerkung. Unser Kloster hatte niemals in seinem Leben etwas Besonderes bedeutet, und er hatte keine bitteren Tränen um seinetwillen vergossen. Er ließ sich aber von seinen ausgedachten Tränen so sehr hinreißen, daß er einen Augenblick wohl selbst glaubte, was er sagte. Er fing sogar vor Rührung fast an zu weinen, doch gleichzeitig wurde er sich bewußt, daß es Zeit sei, den Rückzug anzutreten. Der Abt senkte den Kopf und erwiderte auf seine boshafte Lüge nachdrücklich: »Wiederum steht geschrieben: ›Ertrage mit Freuden den dir angetanen Schimpf und laß dich nicht beirren, noch auch hasse den, der dich beschimpft hat.‹ Danach handeln auch wir.«
»Papperlappapp, Böses mit Gutem vergelten! Und all der übrige Unsinn! Na, dann vergelten Sie Böses mit Gutem, Väter,
aber ich gehe. Und meinen Sohn Alexej nehme ich kraft meiner väterlichen Gewalt für immer von hier weg. Iwan Fjodorowitsch, mein respektvoller Sohn, erlaube, daß ich dir befehle, mit mir mitzukommen! Herr von Sohn, wozu willst du noch hier bleiben? Komm gleich zu mir in die Stadt! Bei mir soll es lustig zugehen. Es ist nur eine kleine Werst weit. Statt des Fastenöles werde ich ein Spanferkel mit Grütze auftragen lassen, da wollen wir zu Mittag essen, auch Kognak werde ich aufsetzen und danach Likör, ich habe einen Himbeerlikör. Herr von Sohn, laß dein Glück nicht aus den Händen gleiten!«
Er ging schreiend und gestikulierend hinaus.
Und eben in diesem Augenblick bemerkte ihn Rakitin und zeigte ihn seinem Begleiter Aljoscha.
»Alexej!« rief der Vater von weitem, sobald er ihn erblickt hatte. »Du ziehst noch heute zu mir! Dein Kopfkissen und deine Matratze bring auch mit, und laß dich hier nie wieder blicken!«
Aljoscha blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete schweigend und aufmerksam die Szene. Fjodor Pawlowitsch war unterdessen in den Wagen gestiegen, und nach ihm schickte sich Iwan Fjodorowitsch an, einzusteigen, ohne sich zum Abschied nach Aljoscha umzuwenden. Da ereignete sich noch eine possenhafte, fast unglaubliche Szene, ein passendes Finale zu diesem ganzen Skandal. Am Wagentritt erschien plötzlich atemlos, um nicht zu spät zu kommen, der Gutsbesitzer Maximow. Rakitin und Aljoscha sahen ihn laufen. Er hatte es so eilig, daß er in seiner Ungeduld den einen Fuß schon auf den Wagentritt setzte, als Iwan Fjodorowitsch noch seinen linken Fuß darauf stehen hatte. Er hielt sich am Kutschbock fest, hüpfte und versuchte, in den Wagen hineinzugelangen.
»Ich komme auch mit!« rief er hüpfend und ließ dabei ein kurzes, fröhliches Lachen vernehmen. Sein Gesicht strahlte vor Glückseligkeit, und er war offenbar zu allem bereit. »Nehmen Sie mich auch mit!«
»Na, habe ich es nicht gesagt?« rief Fjodor Pawlowitsch entzückt. »Das ist Herr von Sohn! Der richtige, von den Toten auferstandene Herr von Sohn! Wie hast du dich denn losgemacht? Was für einen Grund, der eines Herrn von Sohn würdig wäre, hast du angegeben? Und wie konntest du von einem Diner weglaufen? Dazu muß man ja eine eiserne Stirn haben! Ich habe eine solche Stirn, aber ich staune über deine, Bruder! Spring auf, schnell, spring auf! Laß ihn herein, Wanja, es wird sehr fidel werden. Er wird sich hier im Wagen zu unseren Füßen hinlegen. Wirst du das tun, Herr von Sohn? Oder wollen wir ihn neben dem Kutscher plazieren? Spring auf de Kutschbock, Herr von Sohn!«
Doch Iwan Fjodorowitsch, der sich inzwischen schon gesetzt hatte, stieß den Gutsbesitzer Maximow auf einmal wortlos aus voller Kraft vor die Brust, daß dieser ein paar Schritte zurücktaumelte. Daß er nicht stützte, war Zufall.
»Fahr zu!« schrie Iwan Fjodorowitsch ärgerlich dem Kutscher zu.
»Was machst du denn? Was machst du denn? Warum behandelst du ihn so?« empörte sich Fjodor Pawlowitsch, aber der Wagen rollte schon dahin. Iwan Fjodorowitsch antwortete nicht.
»Sieh mal an, was du für einer bist!« sagte Fjodor Pawlowitsch wieder, nachdem er zwei Minuten lang geschwiegen hatte, und schielte zu seinem Sohn hinüber. »Du hast doch diesen ganzen Klosterbesuch selbst ausgedacht. Du hast uns dazu angestiftet, hast ihn uns plausibel gemacht! Warum bist du denn jetzt so ärgerlich?«
»Sie haben genug Unsinn geschwatzt, erholen Sie sich wenigstens jetzt ein bißchen!« antwortete Iwan Fjodorowitsch schroff und mürrisch.
Fjodor Pawlowitsch schwieg wieder zwei Minuten lang.
»Ein kleiner Kognak wäre jetzt nicht übel«, bemerkte er sentenziös.
Iwan Fjodorowitsch antwortete nicht.
»Wenn wir nach Hause kommen, wirst du auch gern einen trinken.«
Iwan Fjodorowitsch schwieg.
Fjodor Pawlowitsch wartete noch zwei Minuten, dann sagte er: »Aber Aljoschka werde ich doch aus dem Kloster fortnehmen, obwohl Ihnen das sehr unangenehm sein wird, ehrerbietigster Karl von Moor.«
Iwan Fjodorowitsch zuckte verächtlich die Achseln, wandte sich ab und blickte auf den Weg. Dann sprachen sie nicht mehr miteinander, bis sie nach Hause kamen.
1 Klosterkwaß: Kwaß – alkohol. Getränk aus Brot, Mehl und Malz
2 Sterletsuppe: Sterlet – eine kleine Störart
3 Blancmanger: Mandelgelee
4 plus de noblesse que de sincerité: mehr Adel als Aufrichtigkeit
5 plus de sincerité que de noblesse: mehr Aufrichtigkeit als Adel
6 Synod: das oberste Organ der russisch-orthodoxen Kirche
1. In der Gesindestube
Das Haus Fjodor Pawlowitsch Karamasows stand zwar nicht im Zentrum der Stadt, aber auch nicht ganz am Rande. Es war schon ziemlich baufällig, hatte jedoch ein hübsches Äußeres. Es war einstöckig mit einem Zwischengeschoß, grau angestrichen und hatte ein rotes Blechdach. Übrigens konnte es noch lange stehen; es war geräumig und behaglich. Es gab darin allerlei Rumpelkammern, allerlei Verstecke und heimliche Treppchen. Ratten hausten darin; Fjodor Pawlowitsch ärgerte sich jedoch über diese Tiere nicht besonders. ›Es ist dann nicht so langweilig abends, wenn man allein im Hause ist‹, dachte er. Er hatte tatsächlich die Gewohnheit, die Dienerschaft für die Nacht in das Seitengebäude zu entlassen und sich selbst die ganze Nacht allein im Haus einzuschließen. Dieses Seitengebäude stand auf dem Hofe; es war geräumig und solide gebaut. Auf Fjodor Pawlowitschs Anordnung wurde dort das Essen bereitet, obgleich auch im Haus eine Küche vorhanden war. Er konnte den Küchengeruch nicht leiden, also wurden die Speisen im Sommer und im Winter über den Hof getragen. Überhaupt war das Haus für eine große Familie berechnet, und man hätte fünfmal soviel Herrschaft und Dienerschaft darin unterbringen können. Aber zur Zeit, da diese Erzählung spielt, wohnten im Haus nur Fjodor Pawlowitsch und Iwan Fjodorowitsch, und im Gesindehaus nur drei Dienstboten: der alte Grigori, die alte Marfa, seine Frau, und der Diener Smerdjakow, ein junger Mann. Es wird erforderlich sein, etwas ausführlicher von diesen Bediensteten zu sprechen. Über den alten Grigori Wassiljewitsch Kutusow haben wir bereits genug gesagt. Er war ein fester, unbeugsamer Mann, der hartnäckig und geradlinig auf sein Ziel losging, wenn nur dieses Ziel aus irgendwelchen Gründen (die oft erstaunlich unlogisch waren) als unumstößliche Wahrheit vor ihm stand. Er war durchaus ehrlich und unbestechlich. Seine Frau Marfa Ignatjewna beugte sich zwar ihr ganzes Leben lang widerspruchslos dem Willen ihres Mannes, bestürmte ihn aber gleich nach der Bauernbefreiung1 mit der Bitte, von Fjodor Pawlowitsch weg nach Moskau zu ziehen und dort ein kleines Geschäftchen zu eröffnen; sie hatten nämlich ein bißchen Geld. Grigori erklärte ihr gleich damals ein für allemal, sie rede Unsinn, kein Weib verstehe etwas von Ehre, es gezieme sich für sie nicht, ihren Herrn zu verlassen. Möge er sein, wie er wolle: sie hätten jetzt die Pflicht, bei ihm zu bleiben.
»Verstehst du überhaupt, was das ist: Pflicht?« fragte er Marfa Ignatjewna.
»Was Pflicht ist, verstehe ich schon, Grigori Wassiljewitsch. Inwiefern es aber unsere Pflicht ist hierzubleiben, das verstehe ich allerdings nicht«, antwortete Marfa Ignatjewna mit fester Stimme.
»Na, dann verstehst du es eben nicht! Aber geschehen wird es