Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski

Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski


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verhängnisvollen Gespräch noch bei seinem Bruder Dmitri vorbeigegangen, um ihn zu sehen. Auch ohne ihm den Brief zu zeigen, hätte er manches mit ihm besprechen können. Aber Dmitri wohnte weit weg und war jetzt wahrscheinlich nicht zu Hause. Nachdem er einen Augenblick verweilt hatte, faßte er einen endgültigen Entschluß. Er bekreuzigte sich in gewohnt schneller Art und mußte dabei über irgend etwas lächeln, dann schlug er mit festen Schritten den Weg zu der Dame ein.

      Ihr Haus kannte er. Aber der Weg zur Großen Straße und dann über den Platz und so weiter wäre ziemlich weit gewesen. Unser kleines Städtchen ist außerordentlich verbaut, und die Entfernungen sind zum Teil recht groß. Außerdem erwartete ihn sein Vater; vielleicht hatte er seinen Befehl noch nicht vergessen und verrannte sich möglicherweise in seine Schrullen. Daher mußte sich Aljoscha beeilen, um noch rechtzeitig zu der einen und der anderen Stelle zu kommen. Also beschloß er den Weg abzukürzen und »hinten herum« zu gehen; er kannte aber alle diese Wege und Stege im Städtchen wie seine fünf Finger. »Hinten herum« bedeutete: fast ohne Weg, an einsamen Plankenzäunen entlang, manchmal sogar über fremde Flechtzäune und durch fremde Höfe, wo ihn übrigens jeder kannte und mit ihm freundliche Grüße wechselte. Auf diesem Weg konnte er in der Hälfte der Zeit zur Großen Straße gelangen. An einer Stelle mußte er dabei sogar ganz nahe am Hause seines Vaters vorbeigehen, nämlich an einem Garten entlang, der an den seines Vaters grenzte und zu einem alten, kleinen, schiefen Häuschen mit nur vier Fenstern gehörte. Die Besitzerin dieses Häuschens war, wie Aljoscha wußte, eine städtische Kleinbürgerin, eine beingelähmte alte Frau, die dort mit ihrer Tochter lebte; letztere war früher als Stubenmädchen in der Residenz in Stellung gewesen, und zwar noch unlängst bei Generalsfamilien, hielt sich aber jetzt schon ungefähr ein Jahr wegen der Krankheit der alten Frau zu Hause auf und stolzierte in modischen Kleidern umher. Diese alte Frau und ihre Tochter waren in schreckliche Armut geraten und gingen als Nachbarinnen täglich in die Küche zu Fjodor Pawlowitsch, um sich Suppe und Brot zu holen. Marfa Ignatjewna gab ihnen gern. Aber die Tochter verkaufte, obwohl sie Suppe holte, dennoch keines ihrer Kleider, und eines von ihnen hatte sogar eine sehr lange Schleppe. Dieses letztere hatte Aljoscha ganz zufällig von seinem Freund Rakitin erfahren, dem schlechterdings alles in unserem Städtchen bekannt war, er hatte es jedoch sogleich wieder vergessen. Aber als er jetzt den Garten der Nachbarin erreicht hatte, fiel ihm auf einmal diese Schleppe ein, er hob seinen nachdenklich gesenkten Kopf – und hatte plötzlich eine unerwartete Begegnung.

      Hinter dem Flechtzaun stand, irgendwie erhöht, so daß er bis zur Brust herüberragte, sein Bruder Dmitri. Er machte ihm mit aller Kraft Zeichen mit den Händen, rief und winkte, wollte aber offenbar nicht schreien oder auch nur ein lautes Wort sagen, um nicht gehört zu werden. Aljoscha lief sogleich zu dem Flechtzaun.

      »Nur gut, daß du dich von selbst umgesehen hast, sonst hätte ich dich beinahe laut gerufen«, flüsterte Dmitri Fjodorowitsch erfreut und eilig. »Steig hier herüber! Schnell! Schön, daß du gekommen bist! Ich hatte eben noch an dich gedacht ...«

      Aljoscha, freute sich ebenfalls und war nur in Verlegenheit, wie er über den Flechtzaun hinübersteigen sollte. Aber Mitja packte ihn mit seiner Reckenhand am Ellbogen und half ihm beim Sprung. Aljoscha raffte seine Kutte und sprang mit der Gewandtheit eines barfüßigen Gassenjungen hinüber.

      »Na, dann komm; dann wollen wir gehen!« flüsterte Mitja hocherfreut.

      »Wohin denn?« flüsterte Aljoscha. Er blickte sich nach allen Seiten um, sah aber nur einen völlig leeren Garten, in dem außer ihnen beiden niemand war. Der Garten war klein, doch das Häuschen der Besitzerin stand immerhin nicht weniger als fünfzig Schritt entfernt. »Es ist ja niemand hier, warum flüsterst du denn?«

      »Warum ich flüstere? Ach, hol's der Teufel!« schrie Dmitri Fjodorowitsch plötzlich aus voller Kehle. »Ja, warum flüstere ich denn? Na, da siehst du selbst, was für Dummheiten man manchmal macht. Ich bin hier auf Geheimposten und lauere auf etwas. Ich werde dir das bald erklären. Aber weil ich mir bewußt bin, daß es ein Geheimnis ist, fing ich auf einmal an, geheimnisvoll zu sprechen und zu flüstern wie ein Narr, wo es gar nicht nötig ist. Komm! Dorthin! Bis dahin schweig! Ich möchte dich küssen!

      Ruhm dem Höchsten, der die Welten

      all erfüllt und meine Brust!

      Das habe ich eben, während ich hier saß, ein paarmal wiederholt ...«

      Der Garten mochte etwa eine Deßjatine1 groß sein oder etwas darüber, war aber nur ringsherum, an den vier Zäunen, mit Bäumen bepflanzt: mit Apfelbäumen, Ahorn, Linden und Birken. Die Mitte des Gartens war leer und bildete eine Wiese, auf der im Sommer einige Pud2 Heu gemäht wurden. Der Garten wurde von der Eigentümerin vom Frühling an für einige Rubel verpachtet. Auch Beete mit Himbeerstauden, Stachelbeer- und Johannisbeersträuchern waren da, ebenfalls sämtlich an den Zäunen; kleine Beete mit Gemüse, erst kürzlich angelegt, befanden sich dicht am Haus. Dmitri Fjodorowitsch führte seinen Gast in eine vom Haus besonders weit entfernte Ecke des Gartens. Dort wurde plötzlich mitten unter dichtstehenden Linden und alten Johannisbeer-, Holunder-, Schneeball- und Fliedersträuchern etwas wie die Ruine einer uralten grünen Laube sichtbar, schon schwärzlich und schief geworden, mit Gitterwänden und einem Dache, so daß man darin Schutz vor Regen finden konnte. Errichtet war die Laube Gott weiß wann, der Überlieferung nach vor etwa fünfzig Jahren, von dem damaligen Besitzer des Häuschens, einem Oberstleutnant a. D. Alexander Karlowitsch von Schmidt. Alles war schon verfault, der Fußboden vermodert, die Dielen schwankten, das Holz roch nach Nässe. In der Laube war ein hölzerner grüner Tisch, und um ihn herum liefen ebenfalls grüngestrichene Bänke, auf denen man noch sitzen konnte. Aljoscha hatte sofort die begeisterte Stimmung seines Bruders, bemerkt. Als er in die Laube trat, erblickte er auf dem Tischchen eine halbe Flasche Kognak und ein kleines Gläschen.

      »Das ist Kognak!« sagte Mitja lachend. »Und du machst ein Gesicht, als ob du sagen wolltest: Säuft er schon wieder? Glaub nicht dem Schein, der trügt!

      Glaub nicht der lügenhaften Menge,

      vergiß den Zweifel, der dich quält ...

      Ich saufe nicht, ich ›nippe‹ nur, wie sich dieser Schweinehund ausdrückt, dein Freund Rakitin, der noch als Staatsrat sagen wird: ›Ich nippe‹ ... Setz dich! Ich möchte dich nehmen, Aljoscha, und dich an meine Brust drücken, aber so, daß ich dich erdrücke! Denn auf der ganzen Welt, wahrhaftig, wahr-haftig ... liebe ich nur dich!«

      Er hatte die letzten Worten beinahe verzückt gesprochen.

      »Nur dich! Und dann noch eine ›Verworfene‹, in die ich mich verliebt habe! Und dadurch bin ich denn auch ins Verderben gestürzt. Aber sich verlieben, das bedeutet nicht dasselbe wie lieben. Sich verlieben kann man, auch wenn man haßt. Vergiß das nicht! Jetzt sage ich das noch heiter! Setz dich, hier an den Tisch, und ich werde mich neben dich setzen und werde dich ansehen und werde reden. Du wirst immerzu schweigen, ich aber werde immerzu reden, weil die richtige Zeit dafür gekommen ist. Übrigens, weißt du, ich habe mir überlegt, daß ich tatsächlich leise sprechen muß, weil hier ... hier ... ganz unerwartet offene Ohren sein können. Ich werde dir alles erklären. Wie sagt man: Fortsetzung folgt. Warum habe ich mich auf dich gestürzt, mich nach dir gesehnt, alle fünf Tage und noch soeben? Es sind nämlich schon fünf Tage, daß ich hier vor Anker liege. Warum also? Weil ich dir allein alles sagen will, weil das notwendig ist, weil ich dich brauche, weil morgen mein Leben zu Ende geht und neu beginnt. Kennst du das aus eigener Erfahrung? Hast du einmal geträumt, wie man von einem Berg in eine Grube stürzt? So gleite auch ich jetzt hinab, bloß nicht im Traum. Und ich fürchte mich nicht, und fürchte du dich auch nicht! Das heißt, ich fürchte mich, aber es ist ein süßes Gefühl. Das heißt, es ist kein süßes Gefühl, sondern ich bin begeistert ... Na, zum Teufel, es ist ja ganz egal, was das für ein Gefühl ist. Ganz egal, ob mein Geist stark oder schwach oder weibisch ist! Laß uns die Natur preisen! Sieh, nur, wieviel Sonne wir noch haben und wie rein der Himmel ist und wie grün noch alle Blätter, es ist noch ganz Sommer, und jetzt um vier Uhr nachmittags diese Stille! Wohin wolltest du gehen?«

      »Zum Vater. Und vorher wollte ich noch bei Katerina Iwanowna vorbeigehen.«

      »Sie und der Vater! Na so was! Ist das ein Zusammentreffen! Warum habe ich dich gerufen?


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