Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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Eile sein kleines Reisegepäck wegstellend, sucht Claude die Rufnummer des Kommissariats heraus und ist erleichtert, als sich nach nur zweimaligem Klingeln Kommissar Mihailovic am anderen Ende meldet. Da er davon ausgeht, dass der Hauptkommissar mit seinem Assistenten über die Fotos gesprochen hat, wendet er sich direkt an ihn: „Guten Tag, hier ist Claude Duchamp. Ich komme soeben von der Beerdigung meines Bruders zurück und wollte mich erkundigen, ob Ihnen die Fotos, die ich Ihnen neulich dagelassen habe, bei Ihren Ermittlungen weitergeholfen haben?“

      „Nicht so wahnsinnig viel, zumindest reicht es noch nicht zu konkreten Ergebnissen. Allerdings konnten wir dank des Zentralcomputers des BKA vier weitere Personen identifizieren, die allesamt dem gleichen Milieu zuzurechnen sind wie diejenigen, die ihnen mein Kollege Krüger bereits genannt hat.“ Mihailovics präzise, ohne Umschweife vorgetragene Auskünfte machen klar, dass die beiden Kriminalbeamten sorgfältigen Informationsaustausch pflegen, ihren Job ernst nehmen, was Claude in diesem Augenblick außerordentlich beruhigt. „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Namen geben“, bietet Claudes Gesprächspartner an. „Vielleicht wissen Sie etwas damit anzufangen?“

      „Ja, warum nicht, kann nicht schaden“, spielt Claude sein Interesse herunter, dabei ist er nur allzu froh, dass er Mihailovic nicht selbst darum bitten muss. „Ich hole mir nur rasch ein Stück Papier und einen Stift.“ Einen kleinen Notizblock und Kugelschreiber aus seiner über dem Sessel hängenden Jacke zu holen ist Sekundensache. „Ja, ich bin bereit“, signalisiert er dem am anderen Ende der Leitung Harrenden Schreibbereitschaft.

      „Gut. Als erstes wäre da Paul Zaber...", Mihailovic lässt Claude ein paar Sekunden zum Schreiben Zeit, „...als nächstes hätten wir Rudolf Henschel...“, erneut eine kurze Pause, in der leises Papierrascheln durch die Leitung zu vernehmen ist, „...sodann Karl-Heinz Lüttgers, und zum Schluss noch Maximilian Großkopf. Im Gegensatz zu Kowalzik, Singer und Arnold gehören die vier nicht der hiesigen Szene an, sondern haben ihre Reviere in anderen Städten der Bundesrepublik. Sind allerdings ebenso wie die anderen drei keine unbeschriebenen Blätter, Zaber und Großkopf sind sogar wegen diverser Delikte vorbestraft, darunter Körperverletzung und Zuhälterei. In welcher Verbindung sie mit den anderen Personen auf den Fotos stehen und wer diese sind, konnten wir jedoch noch nicht herausfinden, insbesondere über die Identität der sechs mutmaßlichen Hauptpersonen ist uns bislang nichts bekannt.“

      Die Offenheit des ermittelnden Beamten, mit der er Claude über den aktuellen Stand der Dinge in Kenntnis setzt, lässt in Claude, trotz der an und für sich mageren Ergebnisse, neue Motivation aufkeimen, die er auch unverzüglich in die Tat umzusetzen beabsichtigt: „Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft, falls ich irgendetwas erfahre oder auf etwas stoße, was Ihnen weiterhelfen kann, melde ich mich wieder bei Ihnen. Und grüßen Sie Herrn Krüger von mir.“ ‚Warum’, so grübelt er nach dem Auflegen des Hörers, ‚bin ich den beiden gegenüber nicht ganz ehrlich, warum enthalte ich ihnen noch immer gewisse Informationen vor? Eigentlich gibt es keinen Grund für Misstrauen oder Derartiges. Überlasse die Ermittlungen doch jenen, die dafür zuständig sind.’ Doch so sehr er sich selber auch zu überzeugen versucht, unterschwellig will jenes Maß an Skepsis einfach nicht weichen, das ihn daran hindert, alle Fakten offen darzulegen. Vermutlich sind es die schlechten Erfahrungen, die er persönlich durchgemacht hat, überwiegend wohl aber all die abschreckenden Negativschlagzeilen, die nahezu täglich die Gazetten füllen oder im Fernsehen publik werden, wo ein Skandal den anderen jagt, das Gros von ihnen letztendlich aber unter den Tisch gekehrt wird, insbesondere wenn es sich um eine Person des sogenannten ‚öffentlichen Lebens‘ handelt. Claudes Ansicht nach ein schrecklicher Terminus, als ob wir nicht alle dazu zählten. Besser müsste es seiner Meinung nach ‚Person der öffentlichen Sich-zur-Schau-Stellung und der öffentlichen Missgunst-Erzeugung‘ heißen, geht es dem allergrößten Teil der Politiker, Schauspieler, Sänger und anderer im Rampenlicht stehender Stars und Sternchen letztendlich doch um nichts anderes als im Glanze des Scheinwerferlichtes in die neiderfüllten, sie anhimmelnden Augen ihrer Anhänger und Fans zu blicken, die sie in ihrer Verblendung zu Idolen hochstilisieren, zu Überpersonen, die unantastbar zu sein scheinen, denen von der für dumm verkauften Masse praktisch jegliches Fehlverhalten nachgesehen wird, wenn man es nicht von vornherein mit dem Deckmäntelchen des Schweigens zudeckt.

      Obwohl sein Entschluss schon vor dem Anruf feststand, fühlt er sich durch ihn zusätzlich motiviert. Lange hatte er zusammen mit Thorwald am Vortag Vor- und Nachteile eigener Recherchen abgewogen, mit dem Ergebnis, dass bedacht geführte Nachforschungen seinerseits nicht schaden könnten, er jedoch unbedingt die Polizei einschalten müsse, wenn die Sache außer Kontrolle zu geraten drohe.

      Und genau damit wollte er nun beginnen. Am sinnvollsten war es sicherlich, sich mit dem Milieu vertraut zu machen, in dem die Aufnahmen höchstwahrscheinlich gemacht worden waren. Dass er dabei Neuland betritt, flößt ihm auf der einen Seite zwar Unbehagen ein, andererseits lockt ihn diese Herausforderung, die für ihn einem schwarzen Tunnel gleicht, von dem er zwar weiß, dass er einen Ausgang hat, allerdings nicht, wohin dieser führt.

      Während die Straßenbahn durch die von einem kurzen Schauer genässten Straßen gleitet, versucht sich Claude über seine Vorgehensweise klar zu werden, ringt sich angesichts seiner Unkenntnis bezüglich des zu erforschenden Terrains aber schließlich zu dem Entschluss durch, sich zunächst einmal treiben zu lassen, wobei er auf seinen Instinkt und seine Sensibilität vertraut, die ihm in kritischen Situationen meist weitergeholfen, einen Ausweg gezeigt haben.

      Sachte gleitet die Trambahn in die Haltestelle, an der gut zwanzig Personen warten, wovon rund die Hälfte Schüler sind, wie an den Schultaschen leicht auszumachen ist. In Pulk-Formation drängen sie, kaum hat sich die Tür geöffnet, in den Wagen, Claude erhebliche Mühe beim Aussteigen bereitend. Schüchtern spitzen erste sanfte Sonnenstrahlen durch die sich ganz allmählich auftuenden Wolkenlücken, tauchen die Häuserzeilen ringsum in ein derart knackig scharfes Licht, dass es Claude in diesem Augenblick bedauert, keine Kamera dabei zu haben, um die überaus photogenen Licht-Schatten-Spiele in den Gebäudefronten einzufangen, auf denen sich vereinzelt der Schatten eines Baumes abzeichnet. Zum ersten Mal seit jener schrecklichen Entdeckung, die nunmehr bereits zwei Wochen zurückliegt, vermisst er sein Arbeitsgerät, für ihn ein deutliches Signal dafür, dass er sich mit dem Unfassbaren insoweit arrangiert zu haben scheint, dass er sein Leben allmählich neu zu ordnen imstande ist, wobei ihm ganz wesentlich die Tatsache zugutekommt, dass er, wie er bei Durchsicht all der persönlichen Unterlagen und Dokumente seines Bruders festgestellt hat, Alleinerbe ist und Philipp ihm nicht ganz unbeträchtliche Vermögenswerte hinterlassen hat, die es ihm ermöglichen werden, sich - wie er sich vorgenommen hat - zunächst ganz und gar der Aufklärung des Verbrechens zu widmen. Die von ihnen gemeinsam initiierten humanitären Projekte fortzusetzen, ist für ihn Ehrensache, und auch diesbezüglich hat sein Bruder finanziell vorgesorgt. Doch nun gilt es erst einmal, das nach wie vor mysteriöse Verbrechen aufzudecken, das sein Leben von Grund auf umgekrempelt hat.

      Was er eigentlich erwartet, was ihn erwartet, darüber ist sich Claude nicht so ganz im Klaren, als er sich Frankfurts sündiger Meile nähert. Um Milieus wie dieses hat er bis dato nach Möglichkeit einen großen Bogen gemacht, da ihn Typen anekeln, die andere Menschen zu ihrem eigenen Vorteil oder Vergnügen ge- oder gar missbrauchen, sich gar allzu oft mit Gewalt und illegalen Machenschaften Rechte über andere zu verschaffen versuchen, die ihnen nicht zustehen. So sehr ihm dieses demütigende, verachtenswerte Vorgehen zuwider war, so sehr interessierten sein Bruder und er sich schon seit geraumer Zeit für das Schicksal der davon Betroffenen, bei denen es sich in den allermeisten Fällen um Frauen handelte, von solchen Perversitäten wie Kinderprostitution ganz abgesehen. Ganz genau erinnert er sich in diesem Moment an jene Wochen vor fünf Jahren, als er zusammen mit Philipp durch Thailands Hauptstadt gezogen war, deren Rotlichtviertel für derlei Exzesse berühmt-berüchtigt war und ist. Ihr Anliegen war es damals gewesen, junge, vielfach in die Prostitution gezwungene Mädchen aus den Fängen ihrer Peiniger zu befreien, sie notfalls freizukaufen und ihnen eine anständige Ausbildung zu finanzieren, sie zu resozialisieren, ein Vorhaben, zu dessen Zweck sie mit ein paar thailändischen Freunden eine kleine private Einrichtung gegründet hatten, die sich um die Mädchen kümmerte, ihnen eine neue Lebensperspektive aufzeigte. Es war eines jener Projekte, das ihnen von Anbeginn an sehr am Herzen gelegen war und sich, nach mühsamem


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