Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


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ich an dieser Stelle nicht jeden Einzelnen namentlich begrüße. Leider ist es meinen beiden Gefährten Ron-Caha-Hel in Askaryan und Maliss in Zarcas nicht möglich, an diesem Tage zu erscheinen. Ihr alle wisst, dass die gegenwärtigen Ereignisse im Sichelland ihre volle Aufmerksamkeit verlangen. Und dies soll auch keine politische Gesellschaft sein. Meine geliebte Tochter Lenyca Ac-Sarr feiert heute ihren sechzehnten Geburtstag. Ich bitte euch, für einige Stunden zu vergessen, dass dies auch der Jahrestag eines schmerzlichen Verlustes ist."

      Ein Seitenblick auf Lennys verriet ihm, dass ihre Miene bei diesen Worten wie versteinert wirkte und so gab er sich Mühe, rasch fortzufahren.

      "Dies ist ein Tag, der gefeiert und mit Freuden begangen werden sollte. Für einen Vater wie mich ist es ein Segen, eine Tochter wie Lenyca zu haben und ich verrate euch kein Geheimnis, wenn ich sage, wie stolz ich auf sie bin. Seit einigen Wochen ist sie eine wahre 'Gebieterin der Nacht', sie legte die Säulenprüfung mit Bravour ab und wird für viele Kämpfer ein großes Vorbild sein. Dies Lob sei mir gestattet und ich denke, dass nicht nur das getrübte Vaterauge solche Leistungen anerkennt."

      Applaus brandete auf und Rahor, Garuel sowie die neun Cas verneigten sich in Lennys' Richtung.

      "Viele von euch, die ebenfalls Kinder haben, stehen zu Anlässen wie diesen vor einer schwierigen Frage. Was ist ein angemessenes Geschenk? Was wünscht sich mein Sohn oder meine Tochter? Womit kann ich ihm oder ihr eine Freude machen? Nun habe ich das große Glück, dass Lennys mir ihr Leben lang immer sehr klar zu verstehen gegeben hat, was sie begehrt." Im Hintergrund lachte Wandan und die meisten Anwesenden stimmten fröhlich mit ein.

      "Leider wurde Lennys aber auch mit recht viel Intelligenz beschenkt. Leider - nicht, weil ich keine kluge Tochter wünsche, oh nein, aber in diesem Falle macht sie es mir doch recht schwer, sie zu überraschen. Ich weiß natürlich, dass sie ein eigenes Mondpferd möchte, aber Mondpferde lassen sich nicht verschenken. Sie finden ihren Besitzer und manchmal dauert es viele Jahre, bis sich ein solches Tier und sein wahrer Herr begegnen. Ich weiß auch, dass sich mein Kind danach sehnt, ohne Begleitschutz durch die Wälder des Sichellands zu streifen. Aber auch dies kann ich ihr nicht gewähren und alle, die um ihren Schutz bedacht sind, werden darin übereinstimmen. Viele Mädchen in ihrem Alter verlangen nach Schmuck oder Kleidern und glaubt mir, ich täte mir leichter, wenn ich sie damit erfreuen könnte. Doch meine Tochter gelüstet nicht nach Tand und Oberflächlichkeiten, wofür ich im Grunde ja auch dankbar bin. Allerdings erschwert es die Suche. Nun... ich will nicht lange herumreden. Es waren sehr viele Gespräche notwendig, denn ich wollte mit dem Geschenk, das Lenyca von mir erhalten wird, auch niemanden verärgern. Und leider muss ich zuerst einmal euch alle enttäuschen. Denn das, was sie erhält, möchte ich ihr unter den Augen sehr weniger Eingeweihter übergeben. Ihr alle werdet es sehen, aber ich muss euch um Geduld bitten. Lenyca... oder Lennys, wenn dir das wirklich lieber ist, würdest du mir bitte gemeinsam mit Wandan, Bohain und Akosh nach nebenan folgen?"

      Die Verwirrung im Saal war groß. Normalerweise wurden bei derartigen Feierlichkeiten die Geschenke öffentlich überreicht und entsprechend bejubelt. Saton musste sich also etwas Besonderes eingefallen lassen haben und zweifellos legte der Shaj Wert darauf, dass daraus kein einfaches Unterhaltungsprogramm gemacht wurde, sondern eine private Zeremonie, die diese Bedeutung noch unterstrich.

      Auch Lennys sah recht misstrauisch aus, als sie hinter ihrem Vater den Großen Saal verließ. Den geheimnisvollen Mienen der Begleiter konnte sie nichts entnehmen und sie wollte auch nicht wie ein kleines Kind zeigen, dass eine gewisse Neugier in ihr geweckt worden war.

      Saton hatte die Wahrheit gesagt. Er kannte sie. Er kannte ihre Wünsche und noch nie war sie enttäuscht gewesen, wenn er ihr etwas geschenkt oder sie mit etwas überrascht hatte. Bis heute zumindest.

      Der Raum, in den er sie führte, wurde nur selten benutzt. Es war nicht viel mehr als eine Kammer, ohne Fenster und nur durch eine einzelne Kerze beleuchtet. Einen kurzen Moment fühlte sich Lennys an das Heiligtum tief in den Kellern der Burg erinnert, und sie hoffte, dass das 'Geschenk' nicht aus einer weiteren Begegnung mit Ash-Zaharr bestand. Doch als ihr Vater zur Seite trat, stand dort keine steinerne Statue, sondern nur ein einzelner Tisch, auf dem irgendetwas lag, das von einem schwarzen Samttuch bedeckt wurde.

      Wandan, Bohain und Akosh, die den beiden Ac-Sarrs bislang wortlos gefolgt waren, reihten sich hinter dem Tisch auf. Allen dreien war ein vielsagendes Lächeln gemein, lediglich der junge Waffenschmied Akosh wirkte ein wenig nervös.

      "Es gibt viele Dinge, die du dir wünschst." wiederholte Saton nun noch einmal und es klang weitaus feierlicher als seine kurze Rede im Großen Saal. "Aber von all diesen Wünschen sitzen wohl nur wenige tief in dir. Was begehrst du wirklich, aus tiefstem Herzen? Einige Tage der Freiheit womöglich, doch wir beide wissen, dass du sie dir, wenn dieser Drang zu groß wird, einfach nehmen wirst - auf deine ganz eigene Art. Anderes wirst du finden, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen bist. Aber es gibt etwas, was man dir geben muss und etwas, was du nicht erzwingen kannst. Etwas, wofür du vielleicht noch zu jung erscheinen magst. Ich habe lange mit Bohain und Wandan gesprochen, wie auch mit den anderen Cas. Sie kommen darin überein, dass du nicht mit den Maßstäben zu messen bist, die sonst Grundlage für die Beurteilung anderer Säbelschüler sind. Ich sehe das ebenso und ich bin dankbar, dass ich - auch wenn ich dein Vater bin - mit meiner Einschätzung nicht alleine stehe.

      Die Ehren unseres Volkes sind an Gesetze gebunden und manche davon sehen vor, dass ein bestimmtes Alter, eine Prüfung oder eine Erfahrung nötig ist, um sich gewisse Rechte zu verdienen. Dies bedeutet aber nicht, dass Leistungen und Begabungen diese Regeln nicht außer Kraft setzen können. Mein Geschenk an dich entstammt meinem Willen und der Zustimmung Bohains und Wandans, aber auch den Händen eines weiteren Mannes." Er nickte Akosh wohlwollend zu.

      "Du kennst Ascoro Min-Lyva. Du weißt um seine Fähigkeiten. Er ist derzeit wohl der beste Waffenschmied unseres Landes. Kein anderer als er kam dafür in Frage."

      Und endlich legte Saton eine Hand auf das Samttuch.

      "Meine geliebte Tochter, Lenyca Ac-Sarr, ...ein Jahr früher als die Jüngsten bisher, wirst du das erhalten, was du dir redlich verdient hast. Es ist dein, mit allen Rechten, die damit verbunden sind. Ehre es und schätze es. Mein Geschenk an dich."

      Er zog das schwarze Tuch zur Seite.

      Der Gegenstand darunter war schöner als Lennys es sich jemals hätte vorstellen können. Und Saton hatte Recht gehabt - nichts auf der Welt hatte sie mehr begehrt.

      Die Sichel.

      Ihr Silber leuchtete im Kerzenschein und die feinen Schriftzeichen, die darauf graviert waren, mochten für zwei der Umstehenden nur eine mystische Bedeutung haben. Eine Metapher, eine Anlehnung an Legenden. Für Lenyca, Saton und Wandan war es mehr. Es war die Wahrheit, die so offenkundig zutage trat und doch für alle Unwissenden verborgen bleiben würde:

      'Ma sey Ash-Zaharr - ven toro harye!' - 'Ich bin Ash-Zaharr - gekommen, um die Strafe zu vollenden!'

      Die uralte Warnung reiner Batí.

      Jetzt warnte die Reinste unter ihnen. Auf keinen anderen Menschen trafen diese Worte so zu, wie auf diejenige, die nun eine wahre Sichelträgerin war.

      Der Griff der Waffe war aus einer silbernen Schlange gearbeitet. Ein echtes Meisterwerk. Lennys hatte schon häufiger von Akoshs besonderem Talent gehört und auch selbst einige seiner Stücke begutachtet. Jetzt aber wusste sie, dass Saton nicht untertrieben hatte. Kein anderer Waffenschmied hätte eine solche Sichel fertigen können.

      Sie ging auf den Tisch zu, streckte die Hand nach dem Griff aus, doch noch berührte sie die Gabe nicht. Es war ein besonderer Moment und eigentlich wollte sie ihn nicht teilen. Vier Augenpaare richteten sich auf die Tochter des Shajs. Sie wollten diesem wohl historischen Augenblick beiwohnen, wollten sehen, wie Lenyca Ac-Sarr, Tochter des großen Saton, womöglich zukünftige Shaj der Nacht und jüngste Sichelträgerin aller Zeiten zum allerersten Mal ihre eigene Sichel zur Hand nahm und erhob.

      Nur sie, sie wollte es nicht.

      "Ich wäre gern allein." sagte sie leise und wandte den Blick nicht von dem schimmernden Silber ab, das sie mehr und mehr anzog.

      Saton


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