Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


Скачать книгу
Ich will keine bösen Überraschungen erleben."

      Orcus nickte eifrig und hastete davon. Auch Garuel stand auf und klopfte sich ein paar Grashalme von der Kleidung. "Wenn du mich bitte auch entschuldigst, ich möchte mich sicherheitshalber noch bei Tinogal blicken lassen, damit er nicht misstrauisch wird."

      "Mach das."

      "Bis später!" Er nickte Rahor und Racyl zu und folgte dann Orcus.

      Lennys wandte sich wieder den Geschwistern zu. "Nun, und ihr wollt sicher wieder lernen?"

      "Ich nicht." kam Racyl ihrem Bruder zuvor.

      "Ach nein?"

      "Ich... würde gern... also..."

      "Racyl, bist du verrückt geworden?" Rahor sah sie ungläubig an. "Ich meine, wenn Garuel oder ich... also, keiner wird uns wegen sowas rauswerfen, aber du bist noch im ersten Jahr..."

      "Rahor, du solltest deine Schwester selbst entscheiden lassen. Aber wie wäre es, wenn du einfach ebenfalls kommst und auf sie aufpasst? Dann kann ja wohl nichts passieren."

      Nur wenig später lagen und saßen die jungen Krieger im Schutz der östlichen Kasernenmauer. In ihrer Mitte standen mehrere Sijakflaschen, askaryscher Rum und ein Korb Obst, den jemand, den Racyl nicht kannte, mitgebracht hatte. Es stellte sich bald heraus, dass dieser Jemand den Namen Juta trug und eigentlich der Lehrling eines Silberschmieds war. Nach allem, was sie aus den Unterhaltungen heraushörte, traf er sich häufiger mit einigen Säbelschülern, mal hier an der Mauer, mal in der Taverne in der Stadt und er war sogar zu Lennys' Geburtstag in die Burg Vas-Zarac eingeladen worden.

      Lennys selbst war wie so oft der Mittelpunkt der Unterhaltungen, obwohl sie es gar nicht darauf anlegte. Im Gegenteil, gerade an diesem Abend schien sie lieber zuzuhören, statt zu reden und sie machte auch keine Anstalten, andere zu Schaukämpfen und ähnlichen Übungen herauszufordern, wie sie es sonst so gern tat. Stattdessen lag sie im Gras, trank bereits ihren dritten Becher Sijak und beobachtete die Anwesenden. Racyl überkam ein Schauer, als die schwarzen Augen sich wieder auf sie richteten. Bildete sie sich das ein oder war sie häufiger als alle anderen das Ziel von Lennys' Interesse?

      Auch Rahor entging dieses Verhalten nicht.

      "Du gefällst ihr." raunte er Racyl leise zu.

      "Ich?"

      "Na sicher. Das sieht man. Schwesterchen, sei vorsichtig. Lennys ist nicht Irgendjemand. Und das Schlimmste ist: Sie weiß das."

      In diesem Moment stellte Lennys den Kelch ab und richtete sich auf. "Sie hat ihren eigenen Kopf, Rahor."

      Weder Racyl noch ihr Bruder wussten, ob sie gehört hatte, was Rahor gesagt hatte, aber zumindest konnte sie es sich denken. Verlegen stand der junge Mann auf. "Ich... werde mal nachsehen, ob die Luft noch immer rein ist. Um diese Zeit macht Tinogal gern einen Spaziergang."

      "Er hat Magenschmerzen." bemerkte Garuel mit schwerer Zunge. "Hab ihn vorhin geseh'n. Wollte früh ins Bett."

      "Trotzdem. Entschuldigt mich bitte."

      Lennys sagte nichts dazu, doch kaum war Rahor verschwunden, wanderte ihr Blick wieder zu dessen Schwester.

      "Er macht sich nur Sorgen." sagte sie ernst.

      Racyl war überrascht. "Ich... ich weiß. Er meint es nicht böse."

      "Nein, das tut er nicht. Er ist gut. Einer der Besten in der Kaserne."

      "Ja, ich weiß."

      "Beneidest du ihn?"

      "Nein. Ich freue mich. Ich bin stolz auf ihn."

      "Er wird einmal viel erreichen. Vielleicht wird er sogar ein Cas."

      "Bestimmt wird er das." Racyl strahlte.

      "Und du? Willst du auch eine werden?"

      Racyl dachte kurz nach. "Ich weiß nicht. Ich muss meinen Weg noch finden, glaube ich."

      "Komm her." Es klang verbindlich und wie von selbst stand Racyl auf und setzte sich neben Lennys. Sie bemerkte das Grinsen von Garuel, Karuu, Orcus und Juta sehr wohl, versuchte aber, es zu ignorieren.

      "Du siehst nicht aus wie eine Batí."

      "Ich... ich bin eine halbe Batí. Meine Mutter... ist... war eine Mituana. Rahor ist mein Halbbruder."

      "Eine Mituana." Lennys streckte die Hand aus und griff nach einer hellblonden Haarsträhne, die Racyl über die Schultern hing. "So so. Ja, ich habe einmal davon gehört. Und von deinem Vater. Natürlich."

      "Er ist..."

      "Ich weiß, wer er ist. Aber das alles bedeutet nichts. Nichts bedeutet irgendetwas. Nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft. Verstehst du?"

      Lennys war offensichtlich schon etwas betrunken, aber ihr Blick war noch klar.

      "Nicht so ganz."

      "Es zählt nur der Moment. Deshalb sind wir hier. In ein paar Stunden, in ein paar Tagen, Wochen, Monaten, Jahren... irgendwann kommen Kämpfe und Kriege und Schlachten. Aber nicht jetzt. Warum sollen wir nicht also jetzt unsere Zeit nutzen? Wir haben Spaß, wir trinken und feiern. Warum auch nicht?"

      "Aber es ist trotzdem nicht erlaubt."

      Lennys lachte. "Und? Wir tun es trotzdem. Du im übrigen auch. Und je länger du hier bist, desto häufiger wirst du es tun."

      "Wenn... ich darf."

      "Du darfst es auch jetzt nicht."

      Doch Racyl schüttelte den Kopf. "Das meine ich nicht. Ich meine... ich würde es nur wollen... mit Rahor und... und Rahor ist oft mit dir zusammen. Und wenn du nicht willst, dass ich dabei bin, dann..."

      Lennys beugte sich nach vorn. Racyl konnte den Alkohol in ihrem Atem riechen, aber es störte sie nicht. Gerade heute abend fand sie Lennys faszinierender und anziehender als je zuvor.

      "Hast du gerade den Eindruck, dass ich etwas dagegen habe, dass du hier bist?"

      "Nein..., aber..."

      "Warum sollte ich also beim nächsten Mal etwas dagegen haben? Es gibt keinen Grund. Solange du mir keinen lieferst."

      "Das... freut mich."

      "Du denkst an das, was er dir vorhin gesagt hat, oder? Dass du dich vor mir... in acht nehmen musst."

      "Das hat er nicht gesagt!"

      "Aber gemeint. Wie denkst du darüber?"

      "Gar nicht. Also... ich denke nicht darüber nach."

      "Seltsam für jemanden, der angeblich so vernünftig ist."

      "Vielleicht will ich gar nicht vernünftig sein."

      Eine Bewegung lenkte Racyls Aufmerksamkeit für einen Moment von Lennys ab.

      "'S ist schon spät." Leicht schwankend stand Juta auf und verbeugte sich übertrieben, wobei Garuel ihn stützen musste. "Muss morgen früh aus den Federn, mein Meister hat 'nen Großauftrag 'reinbekommen vom Tempel. So gehabt euch wohl, meine Freunde, es war wieder nett mit euch. Hohe... hicks... Lennys, es war mir wie immer eine Ehre!"

      Kaum war Juta in der Dunkelheit verschwunden, unterdrückte auch Garuel ein Gähnen. Karuu, Orcus und zwei weitere Männer, deren Namen Racyl bereits wieder vergessen hatte, sahen ebenfalls schon recht müde aus.

      "Falls ihr glaubt, aus Höflichkeit bleiben zu müssen, irrt ihr euch." Lennys schenkte sich Sijak nach. "Ich bin es schon gewohnt, dass ihr kein großes Durchhaltevermögen habt. Verschwindet in eure Betten."

      Erleichtert nickten die Angesprochenen und fingen an, die Überreste des Abends zu beseitigen.

      "Und du?" fragte Lennys nun leiser. "Hast du auch schon genug?"

      Racyl schüttelte den Kopf. "Um ehrlich zu sein... gefällt es mir hier gerade sehr gut."

      Die Säbelprüfungen der höchsten Klassen waren bei allen Kriegern ein besonders beliebtes Spektakel.


Скачать книгу