Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


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trauriger aber stimmte ihn die Tatsache, dass Lennys jetzt, nachdem ihr das Ausmaß ihres Schicksals klar geworden war, noch sehr viel weniger in der Lage sein würde, ein freundliches Gefühl für ihre tote Mutter zu empfinden. Es war ein bitteres Verständnis, das in Saton heranwuchs. Zum hundertsten Mal fragte er sich, wie er an ihrer Stelle denken würde. Cureda hatte es gewusst. Sie war die einzige gewesen, die es in der Hand gehabt hatte, einem Menschen das zu ersparen, was Lennys Zeit ihres Lebens schultern musste - oder es ihm aufzuerlegen. Sie hatte ihre Tochter aus Liebe geboren, aber das Geschenk des Lebens - das größte, das eine Mutter zu geben vermag - war eingebettet in Schmerzen, Schuld, Strafe und Sühne. Irgendwann einmal, vor einigen Jahren, hatte Saton gehört, wie Lennys zu Wandan gesagt hatte, dass sie kein Verständnis für jene habe, die den Tod fürchteten. Denn dann sei auch alles Schlechte vorüber und es gäbe nichts mehr, weswegen man sich Gedanken machen müsse. Damals hatte ihn das erschüttert. Und jetzt umso mehr. War seine Tochter dazu bestimmt, sich ihr Leben lang nach dem Tod zu sehnen?

      Er sah aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, das zum großen Burghof hinaus wies. Unten stand Lennys und sprach mit Cala, dem Cas. Es war ihr nicht anzumerken, was sie gerade erlebt hatte und selbst wenn sie sich noch geschwächt fühlte, so zeigte sie es in keinster Weise. Vielleicht war das das Geheimnis ihres Charakters. Vielleicht musste sie genau so sein, um all das ertragen zu können, was um sie herum geschah. Sein Vaterherz erglühte vor Stolz, wie so oft in den letzten Wochen. Natürlich verhielt sie sich nicht wie eine bescheidene Bauernmagd. Sie war immer noch die Tochter des Shajs und ihr Auftreten ließ keinen Zweifel daran. Aber schon jetzt verehrte das Volk sie beinahe genauso wie den Herrscher selbst und es gab keinen, der sich ihrem Wort widersetzte.

      Ebenso fiel Saton auf, dass sich das Mädchen in den Kasernen scheinbar wohler fühlte als in ihrem eigentlichen Zuhause. Ob es daran lag, dass sie, wann immer ihr danach war, einen Gegner für Übungskämpfe fand oder aber eher daran, dass es neue Regeln einzuhalten - oder mit Geschick zum umgehen galt -, ob die Fülle der Gleichaltrigen dafür verantwortlich war oder das Fehlen der kriecherischen Diener, das alles vermochte der Shaj nicht zu sagen. Sicher war nur, dass Lennys nichts mehr mit dem Kind zu tun hatte, dass sich von vorn bis hinten bedienen ließ und andere durch ihre Fähigkeiten beeindrucken wollte. Inzwischen war es für sie selbstverständlich, in sämtlichen Kampflehren die Beste zu sein, aber sie legte keinerlei Wert mehr drauf, dies vor einem breiten Publikum zu zeigen.

      Was ihn ein wenig trauriger stimmte, war der Umstand, dass Lennys keine wirklichen Freundschaften schloss. Es gab eine Reihe junger Kämpfer, in deren Gesellschaft sie immer wieder zu finden war. Doch keiner von ihnen schien wirklich ihr Vertrauen zu genießen und wenn die Säbelschüler beisammen saßen, erweckte sie nicht den Eindruck, für irgendeinen von ihnen ein tieferes Interesse zu hegen.

      Er erinnerte sich an die Säulenweihe vor einigen Tagen. Sie war in jedem Jahr die beste Gelegenheit, neue Talente zu entdecken und auch in diesem Sommer waren ihm einige Namen besonders aufgefallen. Bohain, der Säbelmeister der unteren Klassen, hatte auf einen von ihnen hingewiesen und Saton musste dem alten Ausbilder im Stillen Recht geben. Und auch Wandan hatte sich den jungen Mann angesehen. Wandan, von dem einige behaupteten, er könne in Menschen hineinsehen. Und auch er hatte davon gesprochen, dass man Garuel Mala-Rii weiter beobachten sollte.

      Jetzt verabschiedete sich Cala von Lennys und ging zum Cas-Flügel hinüber. Dann verschwand auch das Mädchen aus Satons Blickfeld. Der Shaj dachte daran, dass sie jetzt vermutlich keinen Gedanken mehr an die Geburtstagsfeier in den Kasernen verschwendete. Heute hatte ihr Leben eine sehr entscheidende Wendung genommen - und sich für alle Zeit verändert.

      Als Lennys am nächsten Morgen in die Kaserne zurückkehrte, um sich wieder ihrer Ausbildung zu unterziehen, spürten alle Anwesenden, dass etwas Bedeutsames geschehen sein musste. Selbst bei den Übungskämpfen war sie nicht so recht bei der Sache und als Orcus ihr von der Feier, die sie verpasst hatte, berichten wollte, winkte sie nur gelangweilt ab.

      Am Nachmittag stand es ihr frei, unter strenger Aufsicht die Grundhaltungen des Sichelkampfs zu trainieren oder aber eigenen Beschäftigungen nachzugehen. Niemals hatte sie es für möglich gehalten, freiwillig auf die Sichelstunden zu verzichten, doch dieses eine Mal glaubte sie, die Belehrungen der Ausbilder ebenso wenig ertragen zu können wie die neugierigen Blicke ihrer Mitschüler. Stattdessen kletterte sie in einem unbeobachteten Moment über die Südmauer der Kaserne und legte sich dahinter in den Schatten. Natürlich war es verboten. Natürlich würde sie Ärger bekommen, wenn jemand sie erwischte. Und natürlich war dieser kleine Regelbruch vollkommen unnötig. Aber sie hatte festgestellt, dass sie hier ihre Ruhe hatte und die wenigen, die ihr Geheimnis kannten und sich sogar dann und wann hier mit der Tochter des Shajs zu einem gemütlichen Beisammensein trafen, würden um diese Zeit sicher nicht auftauchen. Umso überraschter war sie, als sich kurz darauf doch jemand zu ihr gesellte.

      "Guten Tag..."

      Sie behielt die Augen geschlossen. Seit vielen Monaten schon ging sie Rahor Req-Nuur aus dem Weg und der junge Mann hatte dies stets respektiert. Einmal hatte er sie um Verzeihung gebeten. Mitten auf dem Gang des Unterrichtsgebäudes. Er hatte nicht gesagt, wofür er sich entschuldigte, aber das war auch nicht nötig gewesen.

      "Ich... ich möchte dich nicht stören." sagte Rahor jetzt.

      "Dann lass es."

      "Wenn du es so willst... in Ordnung. Aber ich muss dir vorher noch etwas sagen."

      Sie ermunterte ihn nicht, weiterzureden, aber wies ihn auch nicht noch einmal ab.

      "Ich... ich wollte dir nur sagen, dass ich glaube, dass du die beste Kämpferin bist. Nicht nur in der Kaserne. Und... ich würde gern von dir lernen. Also wenn du jemals... naja, einen Kampfpartner suchst, dann..."

      "Versuchst du, dich einzuschmeicheln?"

      "Nein. Ich bin nur ehrlich. Es tut mir leid, dass wir uns so lange nicht gesehen haben. Ich hätte damals nicht zu Wandan gehen sollen. Ich dachte, es würde dir helfen, aber ich glaube, das hat es nicht. Und wenn es irgendetwas gibt, was diesen Fehler wieder gut machen kann, dann würde ich mich freuen, wenn du mir sagst, was es ist."

      Dann endlich sah sie ihn an. Warum jetzt? Warum suchte Rahor ausgerechnet jetzt den Kontakt zu ihr? Gerade in dem Moment, da sie sich sicher war, dass sie keinen Menschen um sich haben wollte. Gerade jetzt, da ihr bewusster war denn je, dass sie immer allein sein würde?

      Er schien zu ahnen, was sie dachte.

      "Ich werde jetzt gehen." sagte er traurig. "Aber... Tinogal macht heute persönlich die Abendkontrollrunde. Er sieht auch gern auf dieser Mauerseite nach. Das... wollte ich dir auch noch sagen." Mit diesen Worten machte er kehrt und setzte bereits einen Fuß auf den Vorsprung, der allen, die manchmal hierher kamen, als Kletterhilfe diente.

      "Warte."

      Als Rahor sich umdrehte und Lennys' funkelnder Blick ihn traf, glaubte er zu erstarren. Eis schien seine Adern zu erfüllen. Das Gefühl, dass Lenyca Ac-Sarr in ihn hineinsah und jeden seiner Gedanken las, kam so jäh und erschreckend, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, dem großen Dämon selbst ins Antlitz zu blicken.

      Dann war es vorbei.

      "Ich hätte niemals ein Kind in dir sehen dürfen..." sagte er erschüttert. "Ich glaube, das ist das, wofür ich mich am meisten entschuldigen muss. Ich war hochmütig und selbstgefällig."

      "Wir werden nicht mehr davon reden." erwiderte sie zu Rahors Verblüffung. "Über nichts mehr von dem, was war. Alles ist anders. Auch ich."

      Obwohl er nicht wusste, was sie meinte, nickte er. Vor ihm stand nicht mehr die Fünfzehnjährige, die ihn zwar im Säbelkampf schlug, aber der er sich in anderen Dingen überlegen glaubte. Es war ein ganz anderer Mensch und Rahor ahnte, dass der vergangene Abend, den sie in Vas-Zarac verbracht hatte, etwas damit zu tun hatte.

      "Es gibt nichts mehr, wofür du dich entschuldigen musst. Weil nichts mehr von alledem wichtig ist." fügte sie jetzt hinzu. Dann zog sie ohne weitere Vorwarnung den Shajkan.

      "Yami solei!"

      Rahor reagierte sofort.

      "Arhat zen!"

      Es


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