Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


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der war noch fern.

      In einem Raum Vas-Zaracs aber war es finster und kalt - wie immer. Nie drang einen Sonnenstrahl bis hierhin und auch Menschen kamen so gut wie nie hierher. Kaum jemand war jemals hier gewesen.

      "Es scheint wenig Eindruck auf dich zu machen."

      Trotz des Lichts einer einzigen Kerze lag ein kantiger Schatten auf dem Gesicht ihres Vaters, geworfen von einer mächtigen, steinernen Statue in Gestalt der geflügelten Schlange. Sie war so hoch, dass der Kopf mit dem weit geöffnetem Maul und den schrecklichen Fangzähnen nicht mehr zu sehen war, sondern sich in der Finsternis des turmhohen Gemäuers verlor. Es war - abgesehen von einem schlichten Steinblock, auf den Saton die Kerze gestellt hatte - der einzige Gegenstand an diesem Ort, der einem riesigen Brunnenschacht glich.

      "Was sollte mich beeindrucken?"

      "Niemand sonst, der noch lebt, war jemals hier."

      Sie zuckte die Achseln. "Und?"

      "Willst du nicht wissen, warum?"

      "Du wirst es mir sagen, ganz gleich, ob ich danach frage."

      Saton runzelte die Stirn. Eine Spur von Ungeduld lag in seiner Miene.

      "Zügle dich, Lenyca."

      Sie verdrehte die Augen.

      "Also... warum war sonst niemand hier?" fragte sie gelangweilt.

      "Weil dies ein Raum ist, zu dem nur der Shaj der Nacht Zugang hat. Oder ein Blutsträger."

      "Und?"

      "Alle Menschen, auf denen eines dieser Attribute zutrifft, sind jetzt hier."

      Sie atmete tief durch, als müsse sie sich eine neuerliche, entnervte Antwort verbeißen.

      "Ja... und? Ich weiß, dass du der Shaj bist. Und ich weiß, dass wir beide das Blut der Nacht tragen. Du erzählst mir nichts Neues."

      "Doch. Genau das habe ich eben getan. Wenn du dich dazu herablassen könntest, meinen Worten zu folgen, und sie zu überdenken, dann wüsstest du das."

      Sie reagierte nicht darauf, sondern betrachtete mäßig interessiert die Statue.

      "Es gibt Bessere." sagte sie nur. "Ich kenne mindestens drei Steinmetze, deren Arbeiten..."

      "Lenyca! Ist dir klar, wie alt diese Kammer ist? Wie alt diese Statue ist? Sie stammt aus dem Anbeginn unserer Zeit, sie ist älter als diese ganze Stadt und entstand mit den Grundmauern dieser Festung! Dir mangelt es an Respekt!"

      "Und an Zeit. Ich habe zu tun."

      Saton gab es auf, diesem Moment einen würdigen Rahmen verleihen zu wollen.

      "Einst gab es drei Träger des heiligen Blutes Ash-Zaharrs. Der Letzte, der der Erde derartig verbunden war, starb vor vielen Jahren, du kennst seine Geschichte."

      "Dieses alte Märchen..."

      "Hör mir zu. Doch die anderen Linien überlebten. Bis heute. Und jetzt wirst du endlich einmal anfangen zu denken."

      Sie starrte ihn an.

      "Deine Mutter..." begann er, doch sie fiel ihm ins Wort.

      "Ich will kein Wort von ihr hören!" fauchte sie. "Sie ist für mich eine Fremde! Sie war schwach, sie war es nicht würdig, dem Shaj ein Kind zu geben. Und Ash-Zaharr hat sie dafür gestraft!"

      Zum ersten Mal in seinem Leben verlor Saton die Beherrschung. Das Knallen der Ohrfeige schien den Raum zu erschüttern und zerriss die Stille, die sie beinah erdrückt hätte.

      "Nie wieder!" zischte er wütend. "Nie wieder wirst du so über sie sprechen! Kein Mensch auf dieser Welt würde das überleben und auch wenn du meine Tochter bist, Lenyca, DAS werde ich auch dir nicht erlauben!"

      Sie zuckte unwillkürlich zurück. Diese kalte Wut traf sie härter als der Schlag zuvor. Doch sie sagte nichts.

      "Deine Mutter ist gestorben, damit du leben konntest. Und sie musste sterben, denn das war Ash-Zaharrs Strafe. Eine Strafe, nicht weil sie unwürdig war. Sondern weil genau das Gegenteil der Fall war. Sie hat dich geboren, dich, die du mehr vom Großen in dir trägst als jemals ein Mensch zuvor. Deine Mutter, Lenyca, war Cureda Ac-Zyr. Ac-Zyr - die alte Linie. Die Himmelslinie. Und wenn ich einmal sterbe, dann wirst du die letzte Sichelländerin sein, die sein wahres Erbe besitzt!"

      Keine Regung ließ erkennen, ob sie ihn verstanden hatte oder was sie dachte. Ihr Gesicht blieb im Dunkel der Statue und obwohl sie ihn gehört haben musste, blieb sie stumm.

      Lange.

      "Du lügst." sagte sie dann kaum vernehmbar.

      "Es ist kein Segen, Lenyca. Ich wünschte, ich müsste dir nicht diese Qual auferlegen." Er wandte sich zum Gehen. "Ich werde dich jetzt allein lassen. Du wirst erfahren, warum dieser Ort so gut wie nie aufgesucht wird. Ich habe keine andere Wahl, ich muss es tun. Aber ich bete, ich bete aus tiefstem Herzen, dass du 'Ihm' nicht so gegenübertrittst wie mir. Er verzeiht nicht. In einer Stunde komme ich wieder."

      Sie hörte das Rasseln des Türschlosses als Saton von außen den uralten Schlüssel herumdrehte.

      Im selben Moment erlosch die Kerze.

      „Wir werden uns wiedersehen.“

      Diese Worte hallten grausam in ihr nach. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als tot zu sein. Unvergleichlicher Schmerz erfüllte jede Faser ihres Körpers – immer noch. Er wollte nicht nachlassen. Nur dort, wo kühler Steinboden sie berührte, wurde er etwas gelindert. Etwas. Gerade genug, um ihr die Gewissheit zu geben, noch am Leben zu sein.

      Die Schlange war keine Schlange mehr. Nur noch dieselbe steinerne Statue wie eine Stunde zuvor. Sie konnte sie sehen.

      Den Stein.

      Warum eigentlich? Es war dunkel. Doch sie konnte sie sehen.

      Die Kerze brannte wieder.

      Niemand hatte sie entzündet. Sie war erloschen als sich die Tür geschlossen hatte. Doch jetzt erfüllte sie den turmhohen, runden Raum wieder mit einem schwachen Licht.

      Sie ertrug den Anblick der Statue nicht. Sie wollte sterben, hier und jetzt.

      „Wir werden uns wiedersehen.“

      Lieber sterben.

      Das Türschloss quietschte. Gleich darauf ein Knarren. Jemand trat ein. Er ging auf sie zu und blieb direkt neben ihr stehen, doch er beugte sich nicht zu ihr hinab.

      „Ich wünschte, es wäre dir erspart geblieben. Ich wünschte, ich hätte es nicht tun müssen.“

      Sie antwortete nicht. Sie wollte nicht, dass ihre Stimme versagte. Und sie wusste, dass er recht hatte. Er hatte es tun müssen. Es gab jemanden, dessen Wille stärker war als der des Shajs oder seiner Tochter.

      Als sie viel später aufstand, war sie überrascht, kein Blut zu sehen.

      Saton war wieder gegangen. Er hatte sie allein zurückgelassen, nachdem er gesehen hatte, dass sie noch am Leben war. Und es war gut so. Sie wollte niemanden sehen.

      Als sie hinausging, sah sie die Statue nicht mehr an. Und schwor sich, niemals freiwillig hierher zurückzukommen.

      Lennys sprach nie mehr mit ihrem Vater über das, was im Heiligtum geschehen war. Er fragte sie auch nicht danach und sie vermutete, dass er Angst vor dem hatte, was sie erlebt hatte. Sie war ihm, dem großen Shaj der Nacht, um eine Erfahrung voraus. Und sie besaß etwas, was er nicht hatte. Schon allein aus diesem Grund wollte sie die Erinnerung an Ash-Zaharr nicht mit Saton teilen. Hätte er sie überhaupt verstanden? Oder verstehen wollen?

      Der Shaj aber war klug genug, sie nicht weiter zu bedrängen. Er wusste genug, um zu ahnen, dass ihr die Zeit im Heiligtum auf ewig im Gedächtnis bleiben würde. Wie viele Menschen hatten jemals ins wahre Angesicht Ash-Zaharrs gesehen? Wie vielen war der Gott jemals leibhaftig erschienen? Und selbst wenn man alle Blutsträger aus allen Zeiten zusammenzählte - kein einziger, da war sich Saton sicher, hatte dasselbe erlebt wie seine Tochter. Niemals


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