Sichelland. Christine Boy

Sichelland - Christine Boy


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werde selbst nach Askaryan reiten und...“

      Sara schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe mir alles genau überlegt. Ich glaube, du solltest in Zarcas anfangen.“

      „Warum dort? Wir müssen doch unbedingt herausfinden, an wen diese Schriften verkauft wurden!“

      „Ja, aber noch wichtiger ist es, zu wissen, welche Geheimnisse überhaupt an den Feind weitergegeben wurden. Und von wem. Wir wissen schon, dass letztendlich alles bei Iandal gelandet ist. Aber er muss einen Verbündeten in den Tempeln haben, jemand, der die alten Texte abgeschrieben oder sogar die Originale herausgeschmuggelt und verkauft hat. Wer auch immer diese Pergamente in Empfang genommen hat... er hat sie an Iandal übergeben. Aber wir müssen den Ursprung des Verrates finden!“

      „Nach Zarcas brauche ich nicht einmal einen Tag, wenn ich schnell reite. Aber ich bin ein Krieger, Sara. Ein hochgestellter Cas, das ja, aber eben ein Krieger. Viele Bereiche des Tempels werden mir verschlossen bleiben. Nur durch einen ausdrücklichen Befehl eines Shajs habe ich dort unbegrenzten Zugang.“

      Es versetzte Sara einen tiefen Stich als sie antwortete: „Wandan sagte, wir müssen vielleicht Dinge gegen Lennys' Willen tun. Es geht aber um viel mehr als nur um ihr Wohlgefallen. Und deshalb...“ Sie holte tief Luft. „Deshalb werde ich dir geben, was du benötigst, damit dir keine Tür verschlossen bleibt.“

      Zweiundvierzig. Sara zählte noch einmal. Zweiundvierzig Silberraben saßen auf dem Dach des Hauptflügels der Burg. Stumm und unbeweglich, wie ein böses Omen. Die junge Frau fühlte sich elend. Beinah wünschte sie sich, sie wäre Wandan nie begegnet. Die Aussage des alten Cas war eindeutig gewesen. 'Traue Rahor. Und sonst niemandem.' Was sich zuerst recht einfach angehört hatte, erwies sich nun als eine Last, von der sie nicht wusste, wie sie sie tragen sollte. Sie dachte an ihren alten Lehrer Menrir, den Freund und Verbündeten der Sichelländer. Er war in diesem Lande fast so hoch angesehen wie die Cas und er war ihr immer wie ein Vater gewesen. Nur dank ihm war sie Lennys überhaupt begegnet. Und Akosh. Akosh, der treue, freundliche Schmied, der sich immer wieder hinter sie gestellt hatte, der sie ermutigt hatte und der sich schon fast als Freund der Shaj bezeichnen konnte. Niemanden sonst hatte Lennys in den letzten Wochen so oft in ihrer Nähe geduldet wie ihn. Niemand sonst durfte so ehrlich und offen mit ihr sprechen. Imra. Der alte, zurückhaltende Weber aus Fangmor. Zu ihm fühlte Sara das gleiche unsichtbare Band wie zu Menrir. Er war so still, so gelassen, so weise. Sara kannte kaum jemanden, in dessen Augen so viel Güte strahlte, kaum jemand, der so sehr von Grund auf ehrlich und verlässlich war. Oras. Ja, sie hatte an ihm gezweifelt. Aber Oras hatte ihnen Sicherheit gegeben. Er hatte mehr als nur sein Leben riskiert. Und er hatte sie aus Iandals Burg befreit. Sogar die Tiere vertrauten ihm. Und all die anderen. Talmir, der große Shaj des Himmels, der ihr stets freundlich gegenübergetreten war und der wie kein anderer die Gegenseite zum Bösen verkörperte. Mondor, der düstere, unheimliche Batí-Priester. Konnte ein Batí überhaupt ein Verräter sein? Nichts erschien Sara abwegiger. Die Cas. Der ungestüme, fröhliche Sham-Yu. Der stets traurige und doch starke Balman. Faragyl, der alte Kämpfer, der schon vor zwölf Jahren seine Treue bewiesen hatte. Und dann tauchte ihr eigenes Bild vor ihrem geistigen Auge auf. Wie würden all diese Diener Lennys' wohl sie selbst sehen? Sara, die junge, unsichere Novizin aus dem Mittelland, die sich nicht nur bis nach Semon-Sey durchgeschlagen hatte, sondern sogar an den geheimsten Sitzungen teilnahm. Und die im Begriff war, tatsächlich einen Verrat zu begehen. Einen Betrug an ihrer eigenen Herrin.

      Und der Beweis dafür lag in ihren zitternden Händen. Erst wenige Wochen war es her, dass sie etwas ähnliches getan hatte. Es schien zu einem anderen Leben zu gehören. Damals hatte sie keine Gewissensbisse gehabt. War sogar stolz auf sich gewesen. Und jetzt? Sie verabscheute sich dafür. Fast schon wünschte sie sich, dass ihre Herrin jetzt unerwartet hinter der Hecke hervortreten und ihr diesen Gegenstand der Selbstverachtung entreißen würde, sie zur Strafe in den Kerker sperren würde... nur damit diese Last von ihrer Seele genommen würde. Kerker? Nein. Sie wusste, dass es nur eine Strafe für ihr Verbrechen geben würde. Und doch schien ihr der Tod eine Gnade zu sein im Vergleich zu den Qualen des Gewissens, die sie gerade erlitt.

      'Genug Selbstmitleid!' schalt sie sich. 'Dafür ist es zu spät. Von diesem Weg gibt es kein Zurück mehr!'

      Eine Glocke läutete. In wenigen Minuten begann die nächste Ratssitzung. Diesmal würde sie nicht daran teilnehmen. Nur die verbliebenen Cas und Talmir, der vor wenigen Stunden zurückgekehrt war, waren geladen. Sie würden über Makk-Ura sprechen, das wusste Sara von Rahor.

      Sie zog den Umhang etwas fester um sich. Regen setzte ein. Widerwillig ging sie zurück zur Seitenpforte der Burg. In ihrer Umhangtasche ruhte das gefälschte Befehlsschreiben mit Lennys' Siegel.

      Kapitel 5

      In den folgenden Tagen kam sich Sara sehr verlassen vor. Lennys war nur noch in ihre Papiere vertieft, empfing hin und wieder Mitglieder ihres engsten Zirkels, gab Befehle zur Verstärkung des Heeres und verbrachte jeden Tag mehrere Stunden mit Kundschaftern, die ihr jedoch keine nennenswerten Neuigkeiten zu überbringen wussten. Nach deren Beobachtungen wurden immer wieder Hantua gesichtet, die sich auf dem Weg zu Iandals Festung machten, außerdem ließ Log ungewöhnlich häufig seine Soldaten aufmarschieren. Doch sonst tat sich nichts.

      Auch von anderer Seite erhielt Sara wenig Ansprache. Rahor war noch am selben Abend, an dem sie ihm das gefälschte Dokument übergeben hatte, nach Zarcas aufgebrochen, doch dabei schien er ebenso betrübt wie sie selbst. Akosh war immer noch in Askaryan, Menrir sammelte auf Lennys Befehl hin weitere Informationen über seinen Sohn Log und Imra bemühte sich darum, mehr über die im Süden verbliebenen Sichelländer herauszubekommen. Lediglich Mondor stattete Sara einmal einen Besuch ab, aber er sprach nicht mehr von Sagun oder Ash-Zaharr, sondern verwickelte sie nur in ein belangloses Gespräch über das Leben im Nebeltempel und über seine Ansichten zur mittelländischen Religion. Dabei hatte er der Novizin immer wieder tief in die Augen gesehen und Sara war überzeugt, dass er als Erster erkennen würde, dass sie etwas zu verbergen hatte.

      So waren alle Ratsmitglieder, sofern sie überhaupt in Vas-Zarac weilten, von morgens bis abends beschäftigt und häufig fanden geheime Zusammenkünfte der Cas mitten in der Nacht und hinter verschlossenen Türen statt.

      Wandan hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass er weder an den Treffen teilnehmen, noch viele Kontakte knüpfen wollte. Niemand wusste so recht, ob er überhaupt noch in der Festung war, doch Sara glaubte eines Nachts, seine leicht gebeugte Gestalt im Westturm verschwinden zu sehen. Sie versuchte nicht, ihm nachzueilen. Was auch immer Wandans Aufgabe war, er schien es nicht für nötig zu halten, sich noch einmal zu zeigen oder das Wort an sie zu richten. Das musste und würde sie akzeptieren.

      Im Grunde war Sara die Einsamkeit nicht fremd. All die Jahre im Tempel hatte sie keine Freunde gehabt. Die gelegentlichen Besuche Menrirs und die Gespräche mit Baramon, dem Bibliothekar, waren ihre einzigen Kontakte gewesen, an die sie gern zurückdachte, doch die meiste Zeit war sie auf sich selbst gestellt gewesen. Sie hatte gelernt, still zu sein und für sich zu arbeiten und sich dabei nicht über das Schicksal zu beklagen.

      Dennoch vermisste sie die glücklichen Tage in der Burg, die erst so kurz zurücklagen. Wie viel wohler hätte sie sich gefühlt, wenn sie wenigstens wieder mit Lennys im Kaminzimmer hätte sitzen dürfen, doch dafür hatte die Shaj keine Zeit mehr. Die vielen Papiere waren durchgesehen und ausgewertet worden und die cycalanisch verfassten Schriften, die jetzt noch übrig waren, studierte Lennys lieber allein. Sie hatte Sara keine Aufträge gegeben oder ihr sonst gesagt, wie sie die nächste Zeit verbringen sollte und das Mädchen hatte sich nicht weiter aufdrängen wollen. Hier gab es zu viele Dienstboten, Köche, Kämmerer, Schreiber und Verwalter als dass sie wirklich eine Hilfe oder Unterstützung gewesen wäre. Dennoch hatten die seltenen Begegnungen mit der Shaj Sara mit Sorge erfüllt. Die Herrin der Krieger war noch blasser als sonst, sie war gereizt und ungeduldig und oft genug zeichneten sich dunkle Schatten unter ihren stechenden Augen ab. Sie gönnte sich kaum Ruhe und es verging so gut wie keine Zusammenkunft, bei der nicht irgendwann ihre unbeherrschte Stimme zornig durch die fest verschlossenen Türen drang.

      Nur ein einziges Mal hatte Sara versucht, Lennys zu einer Pause zu überreden,


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