Sichelland. Christine Boy

Sichelland - Christine Boy


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hinausgegangen. Im Augenblick war ihre Anwesenheit wohl überflüssig und sie hatte auch nicht erwarten können, dass sie so gut beschäftigt wurde, wie in den letzten Wochen.

      Aber sie wollte auch nicht untätig herumsitzen. Müßiggang lag ihr nicht und vielleicht war es sogar von Vorteil, dass sie sich frei bewegen konnte, ohne ständig für ihre Herrin zur Verfügung stehen zu müssen. Immer wieder nahm sie sich ihre eigenen Notizen vor, die sie während der Auswertung im Kaminzimmer angefertigt hatte, besuchte oft die Bibliothek, um ihr Wissen über Cycalas zu erweitern und streifte wie zufällig durch die ihr erlaubten Bereiche der Festung, um dabei hier und da Gesprächsfetzen der Burgdiener aufzuschnappen, die zuweilen sehr aufschlussreich waren. So hatte sie zum Beispiel herausgefunden, dass der Heiler, der für die Gesundheit der Festungsbewohner zuständig war, selbst schwer krank war und seinen Aufgaben kaum noch nachkommen konnte. Es war sogar gut möglich, dass er überhaupt nicht mehr gesund wurde und in Anbetracht seines hohen Alters war damit genaugenommen auch gar nicht mehr zu rechnen. In Vas-Zarac gab es also niemanden, der sich wirklich auf die Heilkunst verstand – ein Umstand, den sich Sara bald zunutze machte. Der kleine Sohn des Hauptkämmerers, der sich mit einem harmlosen Schnupfen plagte, wurde so der erste Patient der Novizin. Argwöhnisch hatten die Burgdiener beobachtet, wie Sara den Jungen kurierte und obwohl sie der Fremdländerin gegenüber immer noch misstrauisch und ablehnend gegenüberstanden, fragten sie sie doch immer häufiger um Rat, wenn es um kleinere Gebrechen ging. Nach und nach begegneten sie Sara nun freundlicher und obwohl sie abends immer noch allein in ihrem kleinen Zimmer saß und ihre Freunde anderen Aufgaben nachgingen, fühlte sich Sara weniger ausgestoßen als in den ersten Tagen in Vas-Zarac.

      Es war der siebte Tag seit Rahors Abreise und Sara war gerade im Begriff, zu einem leeren Kellerraum hinunterzusteigen, in dem sie seit kurzem abends gerne Geschicklichkeitsübungen mit dem Shajkan absolvierte. Sham-Yu hatte ihr einige Kniffe gezeigt und allmählich bekam sie immer mehr Gefühl für die elegante Waffe.

      Doch noch bevor sie die Treppe hinunter zu den Lagerräumen erreichte, stellte sich ihr eine dunkle Gestalt in den Weg.

      „Sara! Dich hätte ich in diesem Teil der Burg am wenigsten erwartet!“

      „Akosh! Oh, wie schön, dich wiederzusehen! Wann bist du zurückgekommen?“ Sara freute sich, den Schmied so unverhofft zu treffen.

      „Erst vor ein paar Stunden. Ich war gerade bei Lennys, um ihr zu berichten und wollte jetzt noch im Weinkeller vorbeischauen. Wie geht es dir?“

      „Danke, gut.“ Sie zögerte. „Hast du... ich meine... es geht mich ja nichts an, aber...“

      „Du möchtest wissen, was ich wegen dieser Pergamente herausbekommen habe?“

      Sara nickte.

      „Warum solltest du das nicht wissen? Viel ist es nicht, aber wir können uns gern bei einem Becher Wein darüber unterhalten. Ich gehe nur rasch eine Flasche holen und komme danach zu dir, in Ordnung?“

      Tatsächlich hatte Akosh, der wenig später an Saras Tür klopfte, nicht viel zu erzählen. Zuerst hatte er einige Tage gebraucht, um den betreffenden Wachposten überhaupt ausfindig zu machen, denn wie sich herausstellte, versah er seinen Dienst inzwischen in Talmirs Anwesen im Westen der Grenzstadt. Kaum hatte Akosh seinen Namen und den neuen Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht, erreichte ihn auch schon die Nachricht, dass der Verdächtige tags zuvor bei einem Übungskampf tödlich verletzt worden war. Was die Pergamente anging, so hatte keiner sonst etwas davon mitbekommen, abgesehen von einem trunksüchtigen Spielmann, der die Rollen im Privathaus des Toten gesehen haben wollte. Über ihren möglichen Inhalt oder gar ihren Verbleib konnte er jedoch keine Auskunft geben. So war die Spur im Sande verlaufen und obwohl Akosh nahezu die ganze Stadt befragte und alle Aufzeichnungen über die Bewegungen am Stadttor durchging, musste er letztendlich doch wieder unverrichteter Dinge abreisen.

      „Wenn du mich fragst, ist dieser Unfalltod kein Zufall gewesen. Ebenso wenig wie bei Makk-Ura.“ Der Schmied klang verbittert. „Aber nachweisen lässt sich eben nichts. Es ist, als ob man gegen eine Wand läuft. Man weiß genau, dass die Antwort dahinterliegt, aber es gibt keine Leiter, keine Pforte, noch nicht einmal eine Mauerspalte, durch die man hindurchlinsen könnte.“

      „Und dieser Spielmann ist sich ganz sicher, dass er die gesuchten Rollen gesehen hat?“

      „Er behauptet es zumindest. Sie seien ihm aufgefallen, weil die Qualität ungewöhnlich gut war und solche Mengen normalerweise nicht im Haus eines einfachen Soldaten zu finden sind.“

      „Aber er weiß nicht, ob sie beschriftet waren?“

      „Nein. Er sah sie nur in einem unverschlossenen Raum stehen, sauber in mehreren Körben gestapelt und natürlich fest zusammengerollt. Als er drei Tage später wieder bei dem Wachmann zu Besuch war, waren die Rollen verschwunden. Er hat gefragt, was mit ihnen passiert sei und worum es sich dabei eigentlich handelte, aber er bekam angeblich kein Wort aus seinem Freund heraus.“

      „Also war die ganze Reise umsonst?“ fragte Sara enttäuscht.

      „Nicht ganz. Wir können zumindest annehmen, dass wir auf der richtigen Spur waren und dass es wirklich etwas mit dieser Bestellung auf sich hat, was Lennys nicht erfahren soll. Warum sonst hätte man den Soldaten töten sollen? Aber was den Rest angeht, tappen wir immer noch im Dunkeln. Lennys war natürlich alles andere als begeistert, aber sie hat auch nicht wirklich erwartet, dass wir die Sache so einfach aufklären können. Vielleicht ist sie sogar froh darüber, dass sie vorerst nichts deswegen unternehmen kann. Sie hat schon genug um die Ohren.“

      Sara sagte nichts. Wieder einmal plagte sie das schlechte Gewissen. Sie war es gewesen, die zuerst auf die seltsame Bestellung aufmerksam gemacht hatte. Und nun hatte Akosh so viel Zeit dafür aufgewendet, der Angelegenheit nachzugehen – ohne Erfolg. Wie viele wichtigere Dinge hätte er in dieser Zeit erledigen können?

      „Sara... ist alles in Ordnung?“

      „Ja. Natürlich.“

      „Du siehst mitgenommen aus. Vielleicht solltest du öfter einmal eine Pause einlegen. Es ist für uns alle eine harte Zeit, aber es hilft niemandem, wenn du über deine Grenzen hinausgehst. Lennys hat so viele Diener. Du kannst dich guten Gewissens auch einmal zurücklehnen.“

      „Ich sehe sie ja kaum noch.“ gestand Sara traurig. „Eigentlich bist du der Erste seit vielen Tagen, mit dem ich wieder richtig rede. Alle sind fort, um irgendwelche Aufträge zu erledigen oder sie stecken den ganzen Tag in wichtigen Gesprächen. Ich wünschte, ich könnte ihnen helfen. Ich bin nicht überlastet, sondern ich langweile mich eher ein wenig.“

      „Ich erinnere mich daran, dass wir vor nicht allzu langer Zeit ein ähnliches Gespräch geführt haben. Kopf hoch, Sara. Ich würde dir zu gern helfen, aber ich fürchte, dass ich heute nicht mehr zu sehr viel zu gebrauchen bin. Ich habe seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.“

      Kurz darauf verließ Akosh Sara wieder, allerdings nicht, ohne ihr zu versprechen, sie am nächsten Tag wieder zu besuchen, sofern Lennys ihn nicht mit einem neuen Auftrag bedachte.

      Bis zum späten Nachmittag des nächsten Tages blieb Sara allein in ihrem Zimmer. Sie wartete auf Akosh, auch wenn sie sicher war, dass er wohl erst am Abend vorbeikommen würde. Umso überraschter war sie, als es lange vor Sonnenuntergang an ihrer Tür klopfte. Es war jedoch nicht der Schmied, der so stürmisch um Einlass bat, sondern der Sohn des Kämmerers, den sie erst vor wenigen Tagen so erfolgreich mit Heilkräutern behandelt hatte.

      „Vilo, du besuchst mich? Das ist wirklich eine Überraschung!“

      Doch der kleine Junge schüttelte wild den Kopf und Tränen liefen ihm über die Wangen.

      „Bitte, Dienerin Sara, komm schnell mit! Mein Vater liegt draußen im Brunnenhof und bewegt sich nicht mehr! Du musst ihn gesund machen!“ Dabei zerrte der aufgeregte Vilo heftig an Saras Arm, bis diese schließlich nachgab und hinter ihm her in den Hof eilte. Und wirklich lag dort der Kämmerer wie tot neben dem Brunnen. Erschrocken kniete sich Sara neben den Mann, fühlte nach dem Puls und horchte auf seinen Atem. Welch ein Glück, er lebte noch! Erst jetzt bemerkte die Novizin ein dünnes rotes Rinnsal unter


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