Sichelland. Christine Boy

Sichelland - Christine Boy


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Befehle bekommen, werden die Cycala, die noch dort leben, weiter die Stellung halten. Was die Vermissten angeht, gibt es sowohl gute als auch schlechte Nachrichten. Etwa die Hälfte ist inzwischen gesichtet worden, einige haben sogar schon Askaryan erreicht. Imra wird gleich Näheres dazu zu sagen haben. Was die anderen betrifft, so wurden drei tot aufgefunden, leider ist uns noch nichts Näheres bekannt. Vom Rest fehlt jede Spur.“ Er nickte Imra zu, der sich daraufhin erhob.

      „Ich habe heute morgen mit einigen Cycala gesprochen, die es über den Westbogen geschafft haben. Eine Gruppe von sieben, zwei Männer, vier Frauen und ein Kind. Sie kamen aus Elmenfall und Thau und wären im Gebirge bei einem Sturm fast ums Leben gekommen. Aber trotzdem sind sie so schnell wie möglich bis nach Semon-Sey weitergezogen, um uns einige Neuigkeiten zu überbringen.“

      „Und die wären?“

      „Sie haben aus der Ferne zwei größere Hantua-Gruppen beobachtet, die auf dem Weg ins Verlassene Land waren. Offensichtlich ist Iandal dabei, seine Festung zu verstärken, was uns ja nicht weiter überrascht. Aber nach allem, was ich inzwischen gehört habe, scheint er recht überlegt zu handeln. Er hat die Hantua fest im Griff und versteht es, sie zu führen. Schon allein die Tatsache, dass sie nun auch in größeren Verbänden umherziehen, sollte uns eine Warnung sein. Einige Überlebende aus Orio, die bisher in Zrundir Unterschlupf gefunden hatten, bekleiden nun hohe Ränge im Heer und sorgen für eine gewisse Struktur. Allerdings ist es schwer, Genaueres zu erfahren. Sie halten sich gut versteckt, lassen sich kaum noch belauschen und behalten ihre Umgebung besser im Auge, als wir es von ihnen gewohnt sind. Ich habe mich zudem über ihre Versorgungsmöglichkeiten erkundigt. Dass sie ihre Vorräte in Thau aufgefrischt haben, war keine Ausnahme. Es sieht aber ganz danach aus, dass sie alles, was sie sonst benötigen, direkt aus Zrundir mitbringen oder zumindest dafür sorgen, dass sie im Verlassenen Land unabhängig sind. Sie haben zum Beispiel nicht nur Nahrung in Thau gekauft, sondern auch Saatgut. Und einer der zurückgekehrten Cycala behauptet steif und fest, dass eine der beiden großen Gruppen auch Tiere mitgebracht hat. Keine toten, sondern lebendige Hühner und Schafe. Außerdem will er einen Wagen mit Werkzeugen und einem Amboss gesehen haben.“

      „Die Hantua als Bauern, Hirten und Handwerker?“ erwiderte Lennys spöttisch. „So ein Unsinn. Es sind Verbrecher. Plumpe Diebe, Mörder, Plünderer. Sie stehlen, was sie brauchen, aber mehr kann man von ihnen nicht erwarten.“

      „Nun ja...“ antwortete Imra zögernd. „Das ist natürlich richtig. Die Hantua haben kein Talent für Ackerbau. Aber die Flüchtlinge Orios haben durchaus Kenntnisse von solchen Dingen. Und wenn Iandals Leute tatsächlich über einen längeren Zeitraum überleben wollen, haben sie eigentlich kaum eine andere Wahl. Es bleibt ihnen ja nur Thau und vielleicht noch Gahl, aber dort alles zu stehlen, was sie brauchen, wird schwierig. Sie wollen auch nicht zu unangenehm auffallen, weil sie ja darauf spekulieren, dass ihnen das Mittelland den Rücken stärkt.“

      „Und sie können ihre wahre Schlagkraft besser verbergen.“ fügte Akosh hinzu. „Wer weiß schon, was sie mit diesen Werkzeugen herstellen? Wir haben keinerlei Einblick mehr. Wenn wir Oras noch einmal einschleusen könnten...“

      „Du weißt, dass das nicht geht!“ fuhr Lennys dazwischen. „Oras ist mit uns aus der Festung verschwunden, er hat uns geholfen, zu entkommen! Kein Hantua wäre so dumm, ihm noch einmal zu glauben, von Iandal ganz zu schweigen.“

      „Und wenn wir jemand anders....“

      „Nein. Wir kämpfen offen. Lügen und Verrat zeichnen Zrundir aus, aber nicht uns.“

      „Aber wir müssen doch alles versuchen, um an mehr Informationen zu kommen!“ meldete sich nun erstmals auch Rahor zu Wort. „Wir können es uns nicht leisten, im Unklaren zu bleiben, Zrundir hat uns in letzter Zeit schon zu viele unangenehme Überraschungen bereitet!“

      „Wer redet davon, dass wir den Kopf in den Sand stecken sollen?“ fauchte Lennys zurück. „Und da du ja ein besonderes Interesse daran zu haben scheinst, wirst du dich auch darum kümmern! Du wirst dir geeignete Kämpfer suchen und sie ins alte Orio schicken! Sie sollen sich dort umsehen und uns umfassend Bericht erstatten.“

      „Aber das Verlassene Land ist voll von Hantua! Sie kämen keine hundert Schritt weit ohne bemerkt zu werden!“

      Lennys' Blick wurde eisig und sie senkte ihre Stimme zu einem gefährlichen Flüstern.

      „Dann, mein verehrter Rahor, wirst du dafür sorgen, dass genau das nicht geschieht. Bist du nicht der oberste Cas? Bist du nicht besser als jeder andere darin geübt, unerkannt an die Feinde heranzukommen, so dass du sogar ihren Atem riechen kannst? Bist nicht du ein Sichelkämpfer, der im Falle eines Entdecktwerdens ein halbes Dutzend Hantua allein erschlagen kann?“

      „Aber....“

      „Du traust deinen eigenen Kriegern nicht zu, dass sie diesen Auftrag ausführen können?“

      „Doch, aber das Risiko...“

      „Hast du Angst, Rahor?“ Ihre Augen glitzerten gefährlich. Rahor richtete sich auf und sein Mund wurde schmal.

      „Nein, ich habe keine Angst.“

      „Dann wirst du deine Einheit anführen. Du hast mir ja bereits bewiesen, dass man hier gut ohne dich zurecht kommt.“

      Rahor erstarrte.

      „Du willst, dass ich ins Verlassene Land gehe? Nur mit einer Handvoll Krieger? Um Iandal auszuspionieren?“

      „Genau das. Und zwar umgehend. Der Rat braucht dich nicht.“

      „Aber...“

      „Geh!“

      Im Großen Saal herrschte betretenes Schweigen. Niemand wagte es, Rahor oder Lennys anzusehen und der oberste Cas selbst schien noch nicht fassen zu können, welchen Befehl er da gerade erhalten hatte.

      „Aber … das geht doch nicht...“ Alle Köpfe wirbelten zu Sara herum. In Lennys' Blick spiegelte sich Fassungslosigkeit.

      „Was hast du gesagt?“ fragte sie ungläubig.

      Sara überlegte einen Moment, ob sie sich für die Entgleisung entschuldigen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, stand sie auf und versuchte, nicht auf Lennys' zornige Miene zu achten.

      „Rahor ist euer oberster Cas. Er beschützt euch und das ganze Land. Ihr könnt doch nicht einfach euren besten Krieger fortschicken, noch dazu mit einem Auftrag, der ihn in den sicheren Tod führt! Ihr ward selbst im Verlassenen Land und ohne Oras wären wir nie von dort entkommen! Aber jetzt sind hunderte Hantua da, es wäre reiner Selbstmord...“

      „Halt den Mund!“ Lennys' Stuhl knallte auf den Boden, als sie aufsprang. Sie schäumte vor Wut.

      „Was glaubst du, wer du bist? Du wagst es, meine Befehle anzuzweifeln? Du willst mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe? Du, eine Fremdländerin, die selbst kaum zur Klinge gegriffen hat? Für diesen Rat bist du nichts weiter als eine Shiq! Nur weil Mondor es so wollte, bist du überhaupt hier! Wie kommst du dazu, dich in die Angelegenheiten eines Volkes zu mischen, dessen einfachste Handwerker dir schon weit überlegen sind?“

      „Ich sage nur, was hier alle denken! Und nur, weil die anderen es nicht aussprechen..“

      „Das reicht!!! Verschwinde, geh mir aus den Augen! Wenn dir soviel an Rahors Leben liegt, dann begleite ihn! Du kannst ihn sicher gegen ganz Zrundir beschützen! Ich will dich hier nicht mehr sehen!“

      Sara presste die Lippen zusammen, rührte sich aber nicht von der Stelle. Dafür schaltete sich Menrir ein.

      „Lennys, ich bitte dich! Du kannst Sara doch nicht einfach so hinauswerfen, nur weil sie sich Sorgen um die Sicherheit eines Cas macht! Nach allem, was sie für uns getan hat...“

      „Was sie für uns getan hat?“

      Sara war sich sicher, Lennys würde jeden Moment Feuer spucken.

      „Für uns? Was hat sie denn getan? Was? Ist es die Blindheit des Alters, die dich geschlagen hat? Oder liegt es daran, dass


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