Sehnsucht. Heidi Oehlmann

Sehnsucht - Heidi Oehlmann


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hinterlassen. Wenn ich sie schon nicht regelmäßig sehen kann, dann soll sie durch die Geschenke wenigstens an mich erinnert werden.

      Gedanklich bin ich noch bei Mias gestriger Party, die bis in die Nacht hineinging. Gegen Mitternacht bin ich als eine der Ersten gegangen. Ich habe so lange gewartet, bis ein Pärchen sich verabschiedet hat. Ich traute mich nicht, zuerst zu gehen. Mia war zwar überrascht über meinen zeitigen Abgang, aber ich hatte eine plausible Erklärung. Immerhin wollte ich für die heutige Fahrt ausgeruht sein. Mia hatte Verständnis für mich, sodass ich mir keine weitere Rechtfertigung ausdenken musste. Als ich das Restaurant verlassen hatte, war ich heilfroh. Endlich brauchte ich diesen Paul nicht mehr ertragen. Er ging mir die ganze Zeit auf die Nerven. Ständig versuchte er, mir ein Gespräch an die Backe zu nageln. Sobald ich mich für einen Augenblick mit niemandem unterhielt, ergriff er seine Chance und stellte mir eine Frage nach der anderen. Statt ihm die Meinung zu geigen, versuchte ich höflich zu bleiben. Ich wollte Mias Party nicht versauen. Außerdem habe ich mich Marta zuliebe zusammengerissen. Auch wenn die beiden im Moment kaum miteinander sprechen, ist er immerhin ihr Kollege. So weit ich weiß, sind die zwei befreundet.

      Es fiel mir schwer, mich zurückzuhalten. Damit ich kein falsches Wort sagte, redete ich wenig. Meist nickte ich oder schüttelte den Kopf, um eine Antwort anzudeuten. Trotz meiner mangelnden Kommunikation begriff Paul nicht, dass ich keine Lust hatte, mit ihm zu sprechen. Erst wollte ich Marta fragen, ob er immer so ist. Das hätte er sicherlich mitbekommen, weil er die ganze Zeit neben mir saß. Also verkniff ich es mir und ließ seine Annäherungsversuche zähneknirschend über mich ergehen.

      Bei nächster Gelegenheit will ich Marta darauf ansprechen, was ihr Kollege für ein Typ ist. Vielleicht erzählt sie mir, was zwischen den Zweien los ist. Sie ging ihm den restlichen Abend aus dem Weg. Wenn ich nicht wüsste, die beiden arbeiten zusammen, hätte ich meinen können, sie begegneten sich gestern zum ersten Mal.

      Was hinter Sybilles gestrigem Auftreten steckt, ist mir genauso schleierhaft. Sie war den ganzen Tag schweigsam und sprach nur das Notwendigste. So habe ich sie bisher noch nie erlebt. Wenn eine meiner Freundinnen sie auf ihr Verhalten ansprach, zuckte sie nur mit den Schultern. Ich vermute, es ist etwas zwischen ihr und Jonas vorgefallen. Eine andere Erklärung gibt es für mich nicht. Warum sollte sie sonst alleine gekommen sein?

      Ein quietschendes Geräusch zieht mich aus meinen Gedanken. Ich drehe das Radio leiser, um mich zu vergewissern, dass es nicht aus den Lautsprechern kommt und lausche gebannt. Erschreckenderweise ist das Quietschen noch da. Es scheint aus dem Motorraum zu kommen.

       Oh nein, hoffentlich ist es nichts Ernstes! Das hat mir jetzt so kurz vor dem Ziel noch gefehlt.

      Als ich das Ortseingangsschild von Potsdam passiere, wird das Geräusch lauter. Nervös rutsche ich auf dem Sitz hin und her. Ich bekomme Angst, jeden Moment liegen zu bleiben.

      »Ich brauche dringend eine Werkstatt!«, sage ich bestimmend und halte Ausschau nach einer.

      Während ich mir jedes Gebäude anschaue, wird das Quietschen leiser. Meine Panik wächst. Ich habe die Befürchtung, es könnte etwas abgefallen sein. Es fällt mir schwer, mit meinen schweißnassen Händen das Lenkrad in der Spur zu halten.

      Von Weitem erkenne ich eine Tankstelle und hoffe auf eine daran angeschlossene Werkstatthalle. Meine Füße berühren die Bremse. Langsam fahre ich an den Zapfsäulen vorbei. Im Rückspiegel sehe ich, wie sich der nachfolgende Verkehr aufstaut. Es fehlt nur noch, dass sie hupen. Glücklicherweise bleibt mir das erspart.

      Nach einer Weile beschleunige ich wieder. Weit und breit kann ich keine Werkstatt entdecken.

      Mein Puls rast, als das Geräusch lauter wird. Die Passanten, an denen ich vorbei fahre, drehen sich nach mir um. Das Quietschen muss sich draußen schlimmer anhören als drinnen. Mir ist die Situation ungeheuer peinlich. Die Angst mitten auf der Straße liegen zu bleiben ist aber viel größer. Panisch scanne ich alle Häuser und jede noch so kleine Einfahrt ab.

      Dann entdecke ich endlich an der Kreuzung ein winziges Schild. Darauf ist eine KFZ-Werkstatt ausgeschildert, die nur achthundert Meter entfernt liegt. Ich setze den Blinker nach rechts, um der Beschilderung zu folgen. Im ersten Moment bin ich ratlos, wo sich die Reparaturwerkstatt befinden soll. Doch dann sehe ich ein weiteres Schild, auf dem der Pfeil nach links zeigt. Ich komme der Anweisung nach und atme auf, als ich die Werkstatt entdecke.

      »Puh, das ist noch mal gut gegangen!«, sage ich erleichtert.

      Langsam fahre ich auf den Hof, parke vor einer Halle und steige aus. Die Tore sind verschlossen. Meine Augen suchen nach einer Eingangstür, aber ich kann keine sehen. Aufgewühlt laufe ich um das Gebäude herum und atme auf, als ich an der Seite eine Tür entdecke. Ich bewege mich auf sie zu, klopfe an und gehe hinein. Statt empfangen zu werden, stehe ich mutterseelenallein in einem riesigen Raum. Mir fällt der Empfangstresen ins Auge. Er ist unbesetzt. Dennoch gehe ich darauf zu.

      »Hallo, ist hier jemand?«, rufe ich.

      Es herrscht Stille. Ich komme mir verloren vor. Wenn ich nicht dringend einen Mechaniker bräuchte, der sich meinen Wagen anschaut, würde ich jetzt verschwinden. In dieser Situation ist mir das Risiko zu groß. Solange ich keine Ahnung habe, was kaputt ist, möchte ich ungern weiter fahren. Nachher wird es noch schlimmer und unnötig teuer.

      »Hallo? Hallo?«, versuche ich es erneut.

      Wieder bekomme ich keine Antwort. Ich laufe in der Halle auf und ab, bis ich eine Sitzecke entdecke. Versteckt in der rechten Ecke hinter einer Kunstpalme befindet sich ein Wartebereich, bestehend aus einem schwarzen Ledersofa, zwei Sesseln in der gleichen Farbe und einem kleinen dunkelbraunen Holztisch. Ich gehe darauf zu und nehme auf einem der Sessel Platz. Nun fällt mir der Kaffeeautomat auf, der gegenübersteht. Bei dem Anblick bekomme ich wahnsinnige Lust auf das Heißgetränk. Ich ziehe mein Portemonnaie aus der Tasche, wühle darin nach Kleingeld und gehe auf den Automaten zu. Ich werfe zwei Münzen in die Maschine und schaue dabei zu, wie sie sich in Bewegung setzt, einen Plastikbecher auswirft, der sich langsam mit der schwarzen Flüssigkeit füllt. Mir steigt der Kaffeeduft in die Nase und steigert meinen Appetit. Nachdem der Becher gefüllt ist und kein Kaffee mehr aus der Maschine läuft, greife ich ihn und gehe zurück zur Sitzecke. Dort setze ich mich, in der Hoffnung, es würde in Kürze jemand auftauchen. Allzu lange will ich hier nicht bleiben. Immerhin wartet Marie auf mich. Wie gern wäre ich jetzt bei ihr, aber mit dem quietschenden Auto möchte ich keinen Meter mehr fahren. Wenn ich es so überhaupt bis zu meiner Cousine schaffe. Mein Auto hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Da würde es mich kaum wundern, wenn es endgültig die Hufe hochreißt.

      Selbst schuld!, schreit es in meinem Kopf. Du hättest die Kiste vor der Reise durchchecken lassen sollen! Dann wäre dir das jetzt erspart geblieben.

      »Oder ich wäre erst gar nicht losgekommen«, antworte ich mir gedankenverloren.

      Gerade überlege ich, ob ich Marie anrufen und ihr von meinem Dilemma erzählen soll, da sehe ich aus den Augenwinkeln, wie sich etwas bewegt. Erst denke ich, ich halluziniere. Doch als ich in die Richtung schaue, aus der ich die Bewegung wahrgenommen habe, weiß ich, dass es nicht so ist. Es war keine Einbildung. Ein kleines Mädchen - ich schätze sie auf drei oder vier Jahre - versteckt sich hinter dem Tresen und lugt hervor. Sobald sie sieht, wie ich sie anschaue, verkriecht sie sich wieder.

      »Hallo, wer bist denn du?«, frage ich leise. In meinen Ohren klingt es fast, als würde ich singen. Dabei habe ich nur versucht, möglichst freundlich zu klingen, um die Kleine nicht zu verschrecken. Das scheint geklappt zu haben. Das Mädchen kommt aus ihrem Versteck langsam auf mich zu.

      Als sie vor mir steht, lächele ich sie an. Statt zurückzulächeln, versteckt das Mädchen ihren Kopf hinter dem Plüschhasen, den sie in den Armen hält.

      »Wo ist denn deine Mama?«, frage ich weiter.

      Die Kleine antwortet nicht. Ihr Gesicht kommt wieder zum Vorschein, als sie die Hand mit dem Hasen nach unten sinken lässt. Sie geht zielgerichtet auf das Sofa zu und klettert rauf. Bei dem Anblick ist mir ein bisschen mulmig. Ich habe die Befürchtung, sie fällt jeden Moment herunter. Geistesgegenwärtig stelle ich den Becher auf den Tisch, springe auf und gehe zu


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