Alexas Verwandlung. Hanna Julian
Mutter Bescheid, die nichts darauf erwiderte. Doch immerhin ging sie mit mir ins Kaufhaus und besorgte eines der für mich ungewohnten Kleidungsstücke. Irgendwie schien sie einen stillen Kampf mit sich auszutragen, während wir nach einem passenden BH suchten. Ich weiß bis heute nicht, woran genau das lag, aber ich könnte mir mehrere Gründe vorstellen. Vielleicht war es ihr unheimlich, dass ich so schnell erwachsen wurde. Vielleicht ärgerte sie sich über die Tatsache, dass nicht sie das Unübersehbare festgestellt hatte, sondern meine Lehrerin. Vielleicht sah sie aber auch bloß eine unendliche Lawine aus Schwierigkeiten auf sich zukommen. Denn was folgte schon bald auf den ersten Büstenhalterkauf? Gespräche über Verhütung, Liebeskummer, Sex, Schwangerschaft und der unweigerliche Schritt, dass sie von der Mutter zur Großmutter würde.
Ich habe sie jedoch bis heute nicht zur Großmutter gemacht und mittlerweile glaube ich fast, dass ihr das auch wieder nicht recht ist, aber sie sagt nichts deswegen. Eigentlich sagt sie wegen gar nichts etwas. Sie will ihre Ruhe. Da wären Enkelkinder ohnehin nur eine Belastung – ein Schwiegersohn auch. Und
deshalb passt es ganz gut, dass ich es lieber bei Männerkörpern belasse, die mir geben, wonach mich gelüstet, und wenn die Typen wieder gehen, nehmen sie ihre gesamte Schmutzwäsche mit nach Hause. Wenn der Tag kommt, an dem mir ein Mann zuruft: »Meine Socken sind alle dreckig, du musst heute waschen!«, habe ich definitiv etwas in meiner Lebensplanung falsch gemacht. Und da ich gerade über Lebensplanung spreche ... Frau Beller – hinter deren Rücken meine Klassenkameraden bellende Hunde imitierten – hatte sicher auch eine Lebensplanung, die jedoch jäh beendet wurde, als sie mitten auf dem Sportplatz unserer Schule einen tödlichen Kreislaufkollaps erlitt. Dabei hatte sie gar nichts gemacht. Sie stand lediglich mit der Stoppuhr da und feuerte uns an, während wir den 100-Meter-Lauf absolvierten. Eben noch rief sie: »Ayşe, Ayşe, schneller Ayşe!«, und im nächsten Moment fiel sie um. Wir waren alle konfus. Schließlich fasst man eine Lehrerin nicht einfach so an! Also versammelten wir uns um sie und versuchten, sie anzusprechen. Ich blieb etwas abseits stehen, denn ich wollte ihr mit meiner Körperfülle nicht zusätzlich noch die Luft zum Atmen nehmen. Schließlich lief Franka, die Schnellste von uns, wie wir gerade noch von Frau Beller bestätigt bekommen hatten, zurück zum Schulgebäude, um Hilfe zu holen. Hilfe kam – konnte aber nicht helfen.
Vielleicht haben wir kostbare Zeit vertrödelt. Vielleicht hätten wir irgendetwas machen können, bevor es zu spät war. Doch wer will das heute noch nachvollziehen? Niemand machte uns einen Vorwurf und wir wurden alle für eine Woche nach Hause geschickt, damit wir den Schock verarbeiten konnten. Als wir dann zur Beerdigung gingen, kam der größte Schock für uns Schülerinnen allerdings erst noch. Denn an ihrem Grab weinte kein treusorgender Ehemann, sondern eine Frau, die sich als Lebenspartnerin unserer Frau Beller herausstellte. Im Geiste hörte ich sie die ganze Beerdigung über sprechen. Es waren Sätze, die sie mir irgendwann immer einmal hatte zukommen lassen, wenn die anderen es nicht hören konnten.
»Alexa, du musst dir dringend einen BH besorgen. Alexa, du musst versuchen, abzunehmen. Mach was aus dir, du bist noch jung. Ich bin mir sicher, du wirst mal eine sehr hübsche Frau werden.«
Irgendwie war ich schockiert, dass man eine lesbische Frau mit uns Mädchen allein gelassen hatte. Ich weiß, dass es unberechtigt ist, solche Gedanken zu haben. Komischerweise habe ich weniger Probleme damit, wenn ein schwuler Mathematiklehrer Jungs unterrichtet. Aber vielleicht hat es damit zu tun, dass der Sportunterricht sich eben doch sehr ausgeprägt mit dem Körper beschäftigt, wohingegen bei Mathematik die Körper sich eher auf Papier befinden und nicht getrimmt, sondern berechnet werden.
Nach Frau Bellers Tod brauchte ich einige Zeit, um zu begreifen, dass sie es nur gut mit mir gemeint hatte. Heute würde ich fast sagen, dass sie diejenige war, die meinen Entschluss, mich zu verändern, am meisten mitgeprägt hat. Aber ich schweife schon wieder ab.
Damals also, als ich in dem Erdloch saß, begriff ich zum ersten Mal, dass ich selbst etwas tun musste, wenn ich mich herausarbeiten wollte. Und damit meine ich nicht nur das Loch, sondern die ganze Falle meines Lebens, in der ich saß.
Einerseits wollte ich meinen Pfunden den Kampf ansagen, andererseits meiner Mutter. Ich wusste nicht, was von beidem schwieriger werden würde, nur dass es notwendig war, das war mir klar.
Als es schließlich meine Mutter war, die mich aus dem Loch herausholte, wollte ich meine neuen Pläne fast schon über Bord schmeißen, doch was sie zu mir sagte, zeigte mir, wie nötig meine Maßnahmen waren: »Nächstes Jahr lädst du die dummen Hühner nicht ein. Dann lädst du nur deine Freundinnen ein.«
Meine Mutter glaubte ernsthaft, ich hätte Freundinnen. Was dachte sie denn, wo ich die versteckt hielt? Ich war so irritiert über das, was sie sagte, dass ich nur träge nickte. Damit war für meine Mutter die Welt wieder in Ordnung. Ich denke, sie redete sich selber gerne Dinge ein. Sie tut das bis heute. Deshalb will sie auch in Ruhe gelassen werden. Wenn Menschen mit einem sprechen, sagen sie manchmal Sachen, die man nicht hören will. Sich so etwas anzutun, vermeidet meine Mutter, wenn es sich irgendwie machen lässt. Aber zurück zu damals ...
~*~
Mildred, Lilo und Vanessa waren nur zu meiner Geburtstagsparty erschienen, weil ich ihnen versprochen hatte, dass es tolle Geschenke für die Gäste geben würde. Sie forderten sie auch tatsächlich von meiner Mutter ein, bevor sie ihr sagten, wo sie mich finden könnte und verließen dann unter wildem Gelächter unser Haus. Ich kann verstehen, dass meine Mutter wütend war, denn die Geschenke waren teuer gewesen und sie hatte sie nur gekauft, weil ich im Laden zu weinen begann, als sie die CDs in das Regal zurückstellen wollte. Von jedem Mädchen hatte ich in Erfahrung gebracht, welche Musik es hörte und ein Album der entsprechenden Band sollte das Gastgeschenk sein. Ich weiß nicht wie ich es schaffte, aber meine Mutter gab ein halbes Vermögen dafür aus. Und das alles nur, damit die Hexen mich in einem Dreckloch sitzen ließen und sich mit ihren Geschenken unbekümmert aus dem Staub machen konnten. Dabei hatte ich nichts anderes gewollt, als von ihnen akzeptiert zu werden. Wie dumm Kinder manchmal sein können. Und damit meine ich mich selbst. Als ob solche gemeinen Biester sich durch Geschenke bestechen lassen würden. Auch ich hatte natürlich Geschenke bekommen und man merkte bei jedem einzelnen, dass sie von den Müttern gekauft worden waren, die mich kein bisschen kannten. Da reichten die Mitbringsel von einem T-Shirt, das mir nicht einmal gepasst hätte, wenn ich nur die Hälfte gewogen hätte, über ein Puzzle, das Biene Maja zum Motiv hatte, bis hin zu einem Buch mit dem Thema erste Liebe. Ich war aber nun einmal weder schlank, noch ein Kleinkind, noch würde ich mich jemals verlieben. Schon allein aus dem Grund nicht, weil sich auch niemand in mich verlieben würde.
Zaghaft begann ich jedoch mir vorzustellen, dass man mich vielleicht mögen könnte, wenn ich abnahm. Natürlich setzte ich meinen Plan auch damals nicht sofort in die Tat um, doch mit zunehmendem Alter wurde es leichter. – Das heißt, ich wurde leichter. Es war kein Hauruck-Prozess, wie bei einer Extremdiät. Sie können es sich sparen, mir Briefe mit der Bitte zu schicken, ich möge Ihnen mein Geheimnis zu dauerhafter Schlankheit und Zufriedenheit verraten. Es gibt keines. Jedenfalls keines, das ich Ihnen vorenthalten würde. Und Sie wollen ja wohl nicht ernsthaft, dass ich Ihnen rate, alles zu vögeln, was Ihnen so in die Quere kommt. Also belassen wir es dabei, dass ich mein Ziel erreichte und meiner Pfunde Herrin wurde.
Kapitel 2
Ich wohne im Herzen von Köln. Mein Küchenfenster und der Balkon zeigen auf das Parkhaus gegenüber. Es ist kein öffentliches Parkhaus, sondern den Bewohnern der Straße vorbehalten. Ich kann sehen, wann sie wegfahren und auch wann sie wiederkommen. Manchmal reime ich mir Geschichten über die Menschen aus der Nachbarschaft zusammen. Da ist zum Beispiel eine alte Frau, die beim Gehen so sehr zittert, dass sie vermutlich kein Auto mehr fahren dürfte. Sie tut es dennoch täglich. Heimlich schaue ich immer von oben hinab auf ihre Kotflügel. Sind Dellen darin? Rammt sie schon mal das ein oder andere Verkehrsschild, ohne es überhaupt zu bemerken? Doch ihr Wagen ist gut gepflegt und in tadellosem Zustand. Dagegen hatte der Herr in Anzug und Krawatte bereits drei Tage nach dem offensichtlichen Neuerwerb seines Alfa Romeo ein kaputtes Vorderlicht und eine lädierte Stoßstange. Und dann ist da noch der junge Mann, der mir häufiger ins Auge fällt. Ein süßer Typ. Einer von der Sorte: Ich sehe gut aus, aber ich würde niemals einem Mädchen das Herz brechen. Also ein