Genesis IV. Alfred Broi
Ihr Blick ging nach vorn und Jorik war sich ziemlich sicher, dass sie ihm und Vilo und Mavis und Shamos und vielleicht noch ein paar anderen auf der Tanzfläche zuschaute, wie sie zu Musik aus ihrer Jugendzeit im – teilweise äußerst peinlichen – persönlichen, jugendlichen Tanzstil abrockten. Alisha hatte offensichtlich ihren Spaß daran, denn nicht nur ihr Mund, sondern ihr ganzes Gesicht strahlte große Fröhlichkeit aus. Bilder einer lachenden Alisha hatte es zu dieser Zeit viele gegeben. was Jorik aber an diesem einen speziellen Foto vom ersten Moment an so sehr fasziniert hatte, war die Tatsache, dass er Alisha noch niemals zuvor so entspannt und zufrieden gesehen hatte. Obwohl oder vielleicht gerade weil ihr Lächeln nicht ausgelassen, sondern eher nur fröhlich war, wirkten ihre Gesichtszüge absolut strahlend und sinnlich und lieferten ein phantastisches Bild einer wunderschönen Frau.
Und obwohl es im Laufe der Jahre schon verblasst, zerschlissen und an einigen Stellen zerknittert war, hatte es für Jorik nichts von seiner Aussagekraft verloren und er fühlte sich jedes Mal absolut darin bestätigt, dass er nie einen besseren Entschluss gefasst hatte, als sein Herz an diese Frau zu verschenken.
Etwas machte ihn dann aber regelmäßig traurig: Das es kein Foto von seiner Familie gab. Dabei hätte er durchaus auf sich selbst verzichten können, Hauptsache Alisha und Daria wären zusammen zu sehen gewesen. Doch das Schicksal hatte es nicht zugelassen, dass es dazu gekommen war.
Und so blieb ihm nichts Anderes übrig, als Alishas Foto intensiv zu betrachten und dann seine Augen zu schließen, um an die kurze Zeit zurückzudenken, die er mit seiner geliebten Tochter Daria gehabt hatte. Doch ihm fiel es nie schwer, sich auch nach so langer Zeit an jede noch so winzige Kleinigkeit zu erinnern. Es war wie ein Film, der vor ihm ablief. Für jeden anderen wäre das sicherlich erstaunlich gewesen, für Jorik aber war es einfach eine Selbstverständlichkeit, die ihm half, das Andenken an seine Tochter zu bewahren.
Anfangs waren seine Erinnerungen an seine Frau und seine Tochter immer sehr tränenreich und schmerzhaft gewesen. Doch seit einiger Zeit hatte er gelernt, mit diesem furchtbaren Verlust umzugehen. Er wusste, er hatte diese beiden Menschen unwiederbringlich verloren, es sei denn, er wählte den Freitod. Doch dazu hatte er nicht den Mut gehabt. Also hatte er versucht, bei den Rettungsaktionen den Tod zu finden, indem er sich hemmungslos in Gefahr begab, doch musste er feststellen, dass es Menschen gab, denen es, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, ganz und gar nicht egal war, was mit ihm geschah und ihn vor Unheil beschützten und so blieb er nach wie vor am Leben. Als diese Phase vorüber war, redete er sich ein, dass er noch nicht sterben durfte, solange der Planet und seine Bewohner noch immer im Krieg gegen diese Bestien standen. Erst, wenn der Sieg gegen sie auch mit seiner Hilfe geschafft war, konnte und durfte er gehen.
So lebte er lange Zeit, bis er teilweise erstaunt, aber auch teilweise entsetzt feststellen musste, dass es nicht nur Menschen gab, denen er etwas bedeutete, sondern es einen bestimmten Menschen gab, der ihm mit jedem neuen Tag immer wichtiger wurde und für den er weit mehr empfand, als die Liebe, die er für seine Freunde fühlte.
Und dieser Mensch war Marivar.
Anfangs war sie nicht mehr als eine Bekannte gewesen, die durch die Wirren des Krieges zu ihm gespült worden war, wenngleich sie schon von Beginn an stets eine besondere Stellung bei ihm eingenommen hatte. Denn Marivar war eine absolut brillante Ärztin, die bereits so vielen Menschen das Leben gerettet hatte, darunter auch seinem Freund Mavis. Doch noch mehr bewunderte Jorik ihre unzerstörbare Willenskraft und innere Stärke, denn natürlich lieferte der Krieg für einen Arzt weitaus mehr Gründe zum Verzweifeln, als zur Zufriedenheit. Und immer dann, wenn er diese eigentlich recht zierliche Frau sprichwörtlich knietief in Blut und Gedärmen in Aktion sah, fuhr ihm regelmäßig eine Gänsehaut über den Rücken, weil er ihre Entschlossenheit und ihre unbeugsame Kraft fast schon spüren konnte.
Dabei wusste Jorik jedoch nur zu genau, dass es in ihrem Inneren vollkommen anders aussah, denn Marivar war eine empfindsame, feinfühlige und sehr emotionale Frau mit einem goldenen Herzen. Und sie hatte ein ähnliches Schicksal ertragen müssen, wie er, denn auch sie hatte ihren Lebenspartner in den ersten Stunden des Krieges verloren.
All diese Gründe waren es, die von Beginn an dafür gesorgt hatten, dass zumindest Jorik immer etwas Besonderes in Marivar sah, wenngleich die Wirren des Krieges sie immer wieder auseinanderrissen.
Erst als sie hier auf Kimuri einen neuen Platz zum Leben gefunden hatten, entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihnen, die, ohne dass es einer von Beiden wirklich bewusst registriert hätte, immer enger wurde.
Das ging viele Jahre so, in denen Marivar mit jedem neuen Tag immer wichtiger für Jorik wurde. Ihre gemeinsamen Momente waren nach wie vor rar, dann aber umso schöner. Jorik genoss ihre Nähe, ihre Intelligenz und ihre Kraft und betrachtete sie eine ganze Zeit lang als seine beste Freundin.
Bis sich allmählich ganz andere Gefühle für sie einschlichen, als er – wann genau das war, vermochte er nicht mehr zu sagen – anfing, sie nicht mehr nur als Freundin, sondern auch als Frau zu sehen.
Und er brauchte wahrlich nicht lange, um zu erkennen, dass sie eine sehr attraktive und auch hübsche Frau war. Marivar war schlank gebaut, hatte mittelgroße, aber noch immer feste Formen und ein sehr hübsches Gesicht mit langen schwarzen Haaren. Ihre stahlblauen Augen funkelten manchmal wie Edelsteine und wenn sie lachte, lachte ihr ganzes Gesicht.
Jorik versuchte anfangs, seine aufkommenden Gefühle für sie zu unterdrücken, doch letztlich war er nicht länger dazu in der Lage.
Alisha war seine erste, wirkliche und große Liebe. Das würde sie auch immer bleiben. Und wenn er die Wahl zwischen ihr und Marivar gehabt hätte, hätte er immer und zu jeder Zeit Alisha gewählt. Doch nichts und niemand konnte ihm seine Frau jemals wiederbringen. Und er hatte mittlerweile erkannt, dass ihm sein eigener Freitod nichts nützen und sie ihm nicht zurückbringen würde.
Der Krieg war furchtbar und so oft schon hatte er sich Alisha neben sich gewünscht, um sein Leid und seine Qualen besser ertragen zu können. Doch eigentlich war es nicht Alisha selbst, die er brauchte, sondern einfach nur einen Menschen, dem er vertrauen und dem er sich öffnen konnte.
Mit Marivar hatte er einen solchen Menschen gefunden und er wollte ihr nun endlich seine Gefühle für sie eingestehen. Vielleicht empfand sie ebenso und sie beide, die der Krieg so sehr hatte leiden lassen, konnten von nun an enger oder sogar gemeinsam durchs Leben gehen.
Der schlimme Vorfall vor einigen Stunden hatte ihn in seinem Entschluss nur noch bestätigt.
Der Tod des Babys in seinen Armen hatte ihn sofort wieder an Daria erinnert und tiefste Verzweiflung in ihm ausgelöst. Und er war sich absolut nicht sicher gewesen, ob er nicht einfach nur daran zerbrechen würde. Doch diese Gefahr bestand nicht, denn – wieder einmal – war Marivar zur Stelle, um ihn zu trösten, ihn zu verstehen, ihm Kraft zu geben und den Schmerz zu nehmen.
So oft schon hatte sie das getan, ohne auch nur die geringste Gegenleistung dafür einzufordern.
Und da war ihm vollkommen klar gewesen, wie sehr er sich wünschte, dass sie fortan an seiner Seite sein würde.
Also lief er in die Krankenstation, um sie zu sehen, aber sie war bei der Beerdigung des kleinen Mädchens. Auch er ging dorthin, wollte im Anschluss mit ihr reden, doch Marivar ging, ohne das er es mitbekam und ohne, dass er sie sprechen konnte.
Als er dann nach der Beerdigung wieder in die Krankenstation ging, war dort mal wieder die Hölle los und Marivar nicht ansprechbar.
Etwas enttäuscht ging er in sein Quartier, löschte das Licht, bis auf diese eine Kerze, nahm Alishas Bild zur Hand und ließ seinen Gedanken freien Lauf.
Er hatte so lange mit seinem Entschluss gewartet, da spielte eine weitere Nacht keine Rolle mehr. Er würde morgen auf eine Gelegenheit warten, um mit ihr zu reden. Irgendetwas würde sich schon ergeben.
Dann überfiel ihn Müdigkeit und er schloss seine Augen.
Es klopfte leise an seiner Tür.
Jorik öffnete seine Augen und war zunächst erst einmal etwas verwirrt, weil er erkennen musste, dass er offensichtlich eingeschlafen war und er nicht wusste, wie lange. Doch ein