Genesis IV. Alfred Broi
Frau huschte ein Lächeln über die Lippen, doch bevor sie antworten konnte, trat die zweite Person zu ihnen. Es war ein Mann, kaum älter als die Frau, mit kurzgeschorenen, schwarzen Haaren. Er war etwa so groß wie Kendig und ebenfalls sehr durchtrainiert und muskulös. Seine grünen Augen leuchteten sanft, doch war sein Gesicht eine einzige, harte Maske, die von einer riesigen dunklen Narbe dominiert wurde. Sie verlief vom rechten Ohr aus unterhalb des rechten Auges quer über die Nase, knickte dann abrupt nach unten ab, über das Kinn hinaus, bis sie irgendwo am Hals schließlich endete.
„Sparen sie sich ihren Dank für später!“ raunte er Kendig ernst, aber dennoch nicht unfreundlich, zu. Plötzlich war entferntes Kreischen mehrerer Bestien zu hören. Der Mann hob seinen Kopf und schaute blicklos an die Decke des großen Lesesaals. Dabei hob er den rechten Zeigefinger. „Wir haben noch nichts gewonnen!“ Er schaute Kendig direkt an, der daraufhin nickte.
„Sind sie hier zufällig vorbeigekommen?“ meinte er sanft. „Oder haben sie einen Plan?“
„Natürlich haben wir einen!“ erwiderte der Mann mit säuerlichem Blick. „Folgen sie uns!“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, drehte er sich um und rannte zum Hauptausgang des Saals, durch den er zusammen mit der Frau auch gekommen war. Die Frau wollte ihm folgen, doch sah sie, dass die Gruppe um Kendig sich nicht bewegte und so hielt sie inne und schaute den jungen Poremier unschlüssig an.
Der erwiderte kurz ihren Blick, dann schaute er in die Runde und nickte den anderen zu.
Auch der Mann registrierte jetzt, dass ihm niemand folgte, doch als er sich mit mürrischem Blick umwandte, setzten sich die anderen doch gerade in Bewegung und er setzte stumm seinen Weg fort.
Sie waren gerade alle aus dem Saal hinaus in den angrenzenden, langen Gang gestürmt, als etwa dreißig Meter weiter südlich ein weiteres halbes Dutzend Monster auftauchte und sofort mit Höchstgeschwindigkeit auf sie zuhielt.
Die gesamte Gruppe erstarrte mit beinahe entsetzen Gesichtern.
„Weiter!“ brüllte der Mann und rannte einige Meter den Gang hinauf, bevor er durch eine weitere, doppelflügelige Glastür in ein angrenzendes Treppenhaus und dann ein Stockwerk hinauf hetzte.
Dabei legte er ein irres Tempo vor. Die Frau bildete mit ihm zusammen die Vorhut, Kendig und Malawi wieder die Nachhut.
In der nächsten Minute stürmten sie in einer atemlosen Hatz, Treppen rauf und runter, durch jede Menge Türen, durch weite oder auch schmale Gänge, wobei sie beinahe regelmäßig alle paar Sekunden einen Haken schlugen und ihre Richtung änderten. Dadurch konnten sie ihre Feinde, die sie stets hinter sich wussten, länger auf Distanz halten, als üblich, doch Kendig war klar, dass auch das sie letztlich nicht davor bewahren würde, eingeholt zu werden.
Im nächsten Moment schoss die Gruppe in einen weiten Gang und erreichte schon nach wenigen Metern eine Abzweigung auf der linken Seite, die sie auch nahmen. Gerade aber als Kendig und Malawi sich nach links wandten, konnten sie hören, wie die Bestien bereits den Eingang in diesen Gang erreichten und die Flügeltüren aus den Angeln rissen.
Kendig sah keinen Sinn mehr darin zu flüchten. Lieber den Feind halbwegs kontrolliert empfangen. Doch als er diesen Gedanken kundtun wollte, sah er den Mann vor einer schmalen, aber äußerst massiven Stahltür stehen, die er gerade geöffnet hatte. Die Frau dirigierte Esha, Matu und Shamos dort hinein und deutete auch ihm und Malawi an, ihnen zu folgen.
Kendig gehorchte und die beiden Fremden huschten sofort nach ihnen in den angrenzenden, schmalen Gang, der über stählerne Treppen mindestens zwei Stockwerke steil nach unten führte. Der Mann riss die Tür ins Schloss und hatte innerhalb von nur zwei Sekunden vier äußerst massive Riegel vorgeschoben.
Kaum einen Wimpernschlag später krachten bereits von der anderen Seite ihre Verfolger dagegen, doch war die Tür zu massiv, zu schmal und zu gut gesichert, als dass sie Schaden hätten anrichten können, obwohl die Bestien dies mit großer Vehemenz versuchten.
Für einen Moment verharrte die Gruppe und alle verschnauften.
Dann schoben sich die beiden Fremden wieder an die Spitze. „Weiter!“ rief der Mann und stürmte die Treppe hinunter.
Am Ende erreichten sie einen Raum mit grauen Betonwänden, der sich nach einigen Metern in eine weite Halle öffnete.
Als Kendig sich umschaute, kam ihm die Umgebung merkwürdig bekannt vor, doch konnte er sie im ersten Moment nicht einordnen. Erst als sie weitergingen und die Halle erreichten, wusste er, wo sie waren. „Das ist ja eine U-Bahn-Station!“ rief er verblüfft aus.
Der Mann nickte ihm zu. „Verdammt richtig!“
Kendig sah sich um. Die Halle war etwa zwanzig Meter lang. Auf der rechten Seite war ein vielleicht fünf Meter breiter Bahnsteig, links der Gleisbereich, in dem sich bereits ein Zug befand. Auf beiden Seiten der Halle führten breite Steintreppen nach oben. Wenige Lampen an der Decke sorgten für ein diffuses Dämmerlicht.
Ohne zu zögern gingen die beiden Fremden zu dem Zug, der nur aus dem Antriebsfahrzeug und einem weiteren Abteilwagen bestand, dessen breite Eingangstür bereits offenstand. Kendig und die anderen folgten ihnen. Dabei erkannte der Poremier, dass der Zug umfassend bearbeitet worden war.
Die üblichen, großen Fensterflächen waren vielfach mit Stahlplatten zugeschweißt und nur an wenigen Stellen durch engmaschiges Drahtgeflecht ersetzt worden. Die Antriebsräder waren ebenfalls mit Stahlplatten verkleidet worden. Zusätzlich waren teilweise armdicke, nach vorn angespitzte Stahlstäbe wie bei einem Igel an die Außenhülle geschweißt worden.
Alles in allem wirkte der Zug durchaus sicher, er wies jedoch auch überall schon deutliche Kampfspuren auf. Offensichtlich war es den hier noch lebenden Menschen gelungen, ihn für ihre Zwecke umzubauen und zu nutzen und ihn als Schutz gegen die Bestien zu verwenden.
Während der Mann sich sofort nach vorn zum Führerhaus begab, blieb die Frau an den Türen stehen und wartete darauf, dass alle einstiegen.
Doch schon als Esha als Erstes ihren ersten Fuß in den Innenraum gesetzt hatte, ertönte vom Ende der Halle wildes Kreischen, dass blitzschnell näherkam. Nur eine Sekunde später waren riesige Schatten auf der Treppe zu erkennen und wuchtige, dumpfe Schläge von kraftvollen Klauen zu hören.
„Beeilt euch!“ rief die Frau und zog Shamos förmlich in das Innere.
Gerade als Kendig und Malawi als Letzte nachrückten, erschienen die ersten Bestien auf der Bildfläche. Sie brüllten widerlich kreischend und donnerten mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf sie zu. Kendig erschrak und hechtete ins Innere. Die Frau riss daraufhin sofort die Türen zu und verriegelte sie. Als Kendig sich umdrehte, konnte er schon mindestens ein Dutzend Monster auf dem Bahnsteig erkennen und es wurden schnell noch mehr, denn auch aus der anderen Richtung quollen sie aus dem Treppenaufgang.
Plötzlich ging ein kurzes Rütteln durch den Zug und Kendig stellte fest, dass der Fremde die Maschinen gestartet hatte.
Doch noch bevor er überhaupt daran denken konnte, Gas zu geben, hatten die Bestien den Zug schon erreicht und überrannten ihn förmlich. Ein Großteil krachte einfach seitlich gegen ihn und brachte ihn bedrohlich ins Schwanken. Esha und Shamos schrien kurz auf. Zeitgleich waren auch Geräusche auf dem Dach zu hören. Innerhalb eines Augenblicks war der Innenraum erfüllt von ohrenbetäubendem, bestialischem Kreischen der Bestien und wuchtigen Schlägen ihrer kraftvollen Klauen. Das sich bei ihren Attacken einige der Monster an den Stahlstäben auf der Außenhaut verletzten, teilweise sogar schwer, schien sie nicht zu interessieren, ihr unstillbarer Blutdurst war schlicht maßlos.
Für Kendig war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis diese Monstren den Zug auseinandernehmen würden. Doch überraschenderweise geschah genau dies nicht.
Stattdessen sprang die Frau an einen kleinen, unscheinbaren Metallkasten an einer der senkrechten Haltestreben. „Vorsicht!“ rief sie, während sie ihre rechte Hand auf den Hebel legte, der dort angebracht war. „Weg von der Außenhülle!“ Sie wartete einen kurzen Moment, bis alle entsprechend reagiert hatten, dann riss sie den Hebel ruckartig nach unten.
Die