1979 Transit ins Ungewisse. Bernhard Wilhelm Rahe

1979 Transit ins Ungewisse - Bernhard Wilhelm Rahe


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im Rahmen der ganzen Natostreitkräfte vorgesehen war. Für die Dauer von zwei Wochen sollte Grabert sich in einer Kaserne an der Nordsee einfinden, dort, wo er gedient hatte.

      „So ein Unsinn“, dachte er.

      Nun waren schon über fünf Jahre nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr vergangen, und ausgerechnet jetzt im Sommer wollte man ihn haben. Zum Einsatz als Kraftfahrer. Mürrisch schob Grabert den Brief zur Seite, Mitte August sollte die Übung stattfinden, also schon in zwei Wochen, was ihm merkwürdig wegen der Kurzfristigkeit erschien. Jetzt fiel ihm auch wieder das Einschreiben ein, das er vor sechs Wochen bekommen hatte. Darin hatten sie in Sachen Wehrübung auf sich aufmerksam gemacht. Grabert hatte gar nicht mehr daran gedacht.

      Die nächsten Wochen vergingen sehr schnell, sodass er sich allmählich auf sein zweiwöchiges Intermezzo bei der Bundeswehr vorbereitete.

      Sein Chef hatte mit Zähneknirschen von der 14-tägigen Beurlaubung Kenntnis genommen, er konnte gerade jetzt im Sommer, zur Urlaubszeit, nur schwer auf eine weitere Arbeitskraft verzichten.

      Am wenigsten erfreut war Lisa, sie zeigte ebenso geringes Verständnis für die Wehrübung wie Grabert selbst, der schon lange begriffen hatte, wie sinnlos die Aufrüstung und das Wort Frieden geworden waren. Frieden, das war schon lange eine Phrase, ein biegsames Etwas, welches sich nach Belieben zurechtkneten ließ. Eine gestaltlose Masse – unter dem Druck der Aufrüstung.

      Immer wieder wurde dieses Wort durch das Blut ahnungsloser friedfertiger Menschen durchtränkt. Probleme in Afghanistan, Mord und Totschlag im Libanon, Marschflugkörper, Mittelstreckenraketen. Die Angst vor einem atomaren Erstschlag. Der „Kalte Krieg“. Der „Eiserne Vorhang“. Das war die Wahrheit.

      Zwei Jahre zuvor war Helmut Schmidt der erste westliche Politiker, der das Rüstungsgleichgewicht – durch SS-20 Mittelstreckenraketen – als erheblich beeinträchtigt einordnete.

      Was taten die Mächtigen und Mogule, um den Krieg zu verhindern? Nicht das Geringste, einen Scheiß!

      Waffen wurden und werden weiterhin produziert und ausgeliefert.

      Die Bereicherung durch Waffengeschäfte erfreute sich einer steigenden Konjunktur. Der Krieg, ein gewinnbringendes Geschäft mit dem Tod.

      Traurig ließ sich Lisa in den Sessel fallen.

      „Wirst Du nach einer Woche wieder daheim sein, oder bekommst Du gar keinen Wochenendurlaub?“

      „Ich weiß es noch nicht, Lisa. Normalerweise ist so eine Übung nach einer Woche erledigt, sodass die zweite nur noch zum Aufräumen und zur Wartung der Geräte benötigt wird. Wenn das der Fall sein sollte, komme ich bestimmt übers Wochenende nach Bremen – und zu Dir.“

      Grabert nahm seine Freundin in die Arme und drückte sie zärtlich, aber fester als gewohnt, an sich, sodass er fürchtete, ihr müsse die Luft wegbleiben. Aber im Gegenteil, sie erwiderte seinen Druck, und sie küssten sich lange und leidenschaftlich.

      An diesem Abend fuhr Lisa nicht nach Hause, sie blieb. Das Paar wollte sich die letzte Nacht vor der Übung nicht voneinander trennen.

      Am nächsten Morgen verstaute Grabert den natogrünen Seesack der Bundeswehr im Kofferraum seines Käfers. Lisa stand am Wagen und blinzelte in die warme Morgensonne.

      „Martin!“ „Ja, Liebling?“ „Sei bitte vorsichtig.“

      Grabert wandte sich um. „Ganz sicher Lisa, es ist ja nur eine lächerliche Übung, nichts Ernstes. Ich verspreche, auf mich achtzugeben, außerdem wird ja nicht scharf geschossen. Er zeigte sein unwiderstehliches Lächeln.“

      „Also Liebling, mach's gut, und arbeite nicht zuviel. Ich rufe Dich heute Abend an.“

      Lisa schmiegte sich zärtlich an ihren Freund:

      „Ich wünschte, es wären nur zwei Stunden und nicht zwei Wochen.“

      Grabert schaute nervös auf die Uhr.

      „Herrje, ich muss los, die Zeit ist so knapp, also bis dann.“

      Das Aufbrummen des Motors zerriss die Morgenstille. Grabert warf ihr noch eine Kusshand zu und bog rechts ab in die Hauptstraße. Im Autoradio wurden Oldies gespielt. Der Moderator brachte wie gewohnt seine aufmunternden kleinen Gags für jene Menschen, die allmorgendlich gegen die gleiche Macht ankämpfen mussten. Die Macht der Gewohnheit. Jene geheimnisvolle Energie, welche die Menschen tagtäglich in den banalen Alltag hineinstieß.

      Auf der Autobahn in Richtung Cuxhaven herrschte kein starker Verkehr, so kam Grabert gut voran. Der Motor des Wagens begann ruhig zu schwingen, so, wie manche Menschen es empfanden, wenn sie schon Stunden mit der gleichen Geschwindigkeit unterwegs waren. Dieses Geräusch kannte Grabert gut, es verlieh ihm immer eine gewisse Ruhe und eine Art träumerischen Zustand, ohne dabei die Konzentration beim Fahren zu verlieren. Die Tatsache, dass er zu einer Reserveübung der Bundeswehr fuhr, veranlasste Graberts Gedanken dazu, in der Vergangenheit herumzukramen und an die Erlebnisse seiner Rekrutenzeit zurückzudenken.

      Damals war er gerade neunzehn Jahre alt gewesen und noch sehr unerfahren. Da gab es diesen despotischen Ausbilder, der immer wieder versuchte, den jungen schüchternen Grabert zu demütigen. Manchmal gelang es dem Ausbilder sogar.

      Grabert erinnerte sich daran, wie er einmal, aus Kollegialität einem Soldaten gegenüber, unerwartet seinen Dienst übernommen hatte. Es musste sehr schnell gehen, und Grabert verzichtete darauf, seine Dienstuniform anzuziehen. Das Resultat war irgendeine dumme Strafe, nur weil die sogenannte Ausübung des Dienstes ohne Uniform strengstens untersagt war. Jeder, der einen albernen Streifen oder „Pickel“ mehr als der andere auf den Schultern aufzuweisen hatte, fühlte sich seinen Untergebenen gegenüber wie ein Halbgott.

      Das „Menschsein“, das Individuum war keinen Pfifferling mehr wert in dieser absurden Hierarchie. Gerechtigkeit wurde durch gebieterisches Handeln und Wichtigtuerei ersetzt. Das Denken und Fühlen wurde an der Garderobe abgegeben. Menschen mit eigenem Willen wurden in diesem System recht schnell zu Marionetten umerzogen.

      Und dann dieses verworrene Netz von Befehl und Ausführung. Wie schnell konnte einer sich in diesem verfilzten Netz verstricken?

      Grabert erinnerte sich an ein Wochenende, an dem er zum Kraftfahrer vom Dienst befohlen war. Es war tief in der Nacht, als man nach dem Obergefreiten verlangte. Er ging ans Telefon und hatte den Offizier vom Dienst am Ende der Leitung. Dieser gab den Befehl, sich unverzüglich, wenn nötig, sogar mit Unterhose, in seinem Dienstfahrzeug sitzend am Eingangstor zur Kaserne einzufinden – „und zwar zackig“.

      Grabert sprang so wie er war, mit einer Trainingshose und Pullover bekleidet, in den Transporter und raste zum Tor, wo auch schon der diensthabende Offizier zustieg.

      Die Fahrt ging bis zur nahegelegenen Landstraße, wo sich ein Zivilfahrzeug überschlagen hatte und im Graben gelandet war. Am Unfallort leisteten die beiden Soldaten Erste Hilfe und benachrichtigten dann die Ambulanz. Der schwerverletzte Fahrer des Fahrzeugs konnte gerettet werden.

      Am nächsten Tag machte ein anderer Offizier eines höheren Ranges Grabert den ungeheuren Vorwurf, ohne angemessene Dienstkleidung den Dienst versehen zu haben und drohte an, eine Meldung machen zu wollen.

      Grabert protestierte gegen diesen Vorwurf, zumal er doch einem Befehl zufolge gehandelt habe.

      So konnte es also durchaus vorkommen, sich durch die Ausführung eines Befehls eine dicke Disziplinarstrafe einzuhandeln, auch in der Ausübung lebensrettender Maßnahmen.

      Grabert bekam keine Disziplinarstrafe, weil die Herren Vorgesetzten dieses Problem am Tisch des Offiziersheimes unter sich lösten und mit den entsprechenden Getränken hinunterspülten.

      Grabert war gut in der Zeit, er musste sich bis um 10.30 Uhr in der Kaserne einfinden. Die warmen Strahlen der Hochsommersonne fielen ihm ins Gesicht.

      Am Rande der Autobahn sausten Büsche, Sträucher, Bäume und Hinweisschilder vorbei.

      „Eigentlich ist es mal eine Abwechslung, wenn man sich schon keinen Urlaub leisten konnte in diesem Jahr“, bemerkte er selbstironisch.


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