Die Pyrenäenträumer - Band 2. Wolfgang Bendick
freuen, dass der Hof der Großeltern wieder zu neuem Leben erwacht war!
DER KANADIER
Im Dorf lebte der ‚Canadien‘, der Kanadier, wie man ihn nannte. Er war seinerzeit nach Kanada ausgewandert, aber später wieder nach Frankreich zurückgekommen und lebte seit kurzem in einem winzigen Häuschen, die zwei einzigen Fenster nach Norden ausgerichtet, gleich gegenüber dem Café. Er hatte aber noch Land im Tal nach Bordebounaout und in Boutebonne und ein weiteres Haus an der anderen Seite des Dorfes, wo er eine Werkstatt eingerichtet hatte und nebenbei Betonfiguren goss, deren Formen er von Canada mitgebracht hatte. Er war von gedrungener Gestalt, dick, stoppelbärtig. Er galt als bärbeißig, sprach wenig mit den Leuten.
Eines Abends waren wir auf dem kleinen Platz vor dem Café versammelt, die wenigen jüngeren Leute vom Dorf, die Buben vom Wirt, Patrick, sein Cousin Pierre, ein paar andere Freunde. Es war ein milder Vor-Sommerabend, einer der Abende, an denen man nicht schlafen gehen will, von denen man wünscht, dass sie ewig dauern. Leise rauschte das Wehr des fast trockenen Flusses, ein paar Grillen zirpten ihren Grillchen ein Liebeslied, süß streifte uns der Atem des Dorfes, diese Mischung von kaltem Kaminfeuer, Stallgeruch, Heu und Moder aus offenen Kellertüren… Eine dreiblättrige Zigarette machte die Runde, langsam fielen die Grenzen von Raum und Zeit. Wir lehnten uns in den Stühlen zurück, unser Blick wanderte zu den Sternen. Patrick sprach von Nepal. Er hatte das Ticket schon gekauft, bald würde es losgehen… Manche beneideten ihn, andere meinten, schöner als hier könne es da kaum sein. „Die Berge sind etwas höher!“, sinnierte ich, „die Hänge sind rot vor Rhododendron, überall raucht man bestes Ganga, man läuft zu Fuß…“ „Das ist ja wie hier!“, warf nach einer Weile Charles ein, „habt ihr die Hänge der Estremaille gesehen? Rot vor Alpenrosen, zu Fuß laufen hier die meisten auch noch, und was das Ganga betrifft, ich frage mich, ob es dort noch besser sein kann als unser Eigenanbau!“ „Ich werde etwas mitbringen! In genau einem Monat werden wir es dann hier testen!“, meinte Patrick. Das fanden wir eine super Idee!
„Chut! Habt ihr gehört, was ist denn das für ein Geräusch?“, fragte plötzlich Pierre. Auch wir hatten etwas bemerkt. Es klang wie ein Röcheln, oder die letzten Atemzüge eines verblutenden Schweines. Pause. Da wieder! Das Geräusch kam aus dem offenen Fenster des Canadiens. War der am Ersticken? Möglich, denn so gesund sah er ja nicht gerade aus! Wir standen alle auf und gingen hinüber. Sein Schlafzimmer lag ebenerdig. Wir warfen feixend einen Blick hinein. Da, wieder, dieses Röcheln! Unsere Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt. Da lag er, wie ein Bär im Winterschlaf, bedeckt mit silbergrauem Fell. „Wie ein Yeti!“, warf Patrick ein, in Gedanken schon in seinem Traumland. Wir konnten uns das Kichern nicht zurückhalten. Doch anscheinend war mit Roger alles in Ordnung. Das schienen seine normalen Schlafgeräusche zu sein.
Wir gingen zurück zum Café. „Ich hab´ ne Idee!“, rief Charles leise, schon vor Vorfreude erregt, „dem machen wir einen ‚Tustet‘!“ Was ein Tustet war, davon hatte ich eine vage Vorstellung. Eine Art Streich. Wir gingen ins Café. Dort standen auf den Tischen noch eine Menge Champagnerflaschen von den Feierlichkeiten des Abends. „Wir binden dem ‘ne Flasche an die Tür, ihr werdet sehen!“ Schon hatte jemand ein paar Stücke Bindegarn von Heuballen besorgt, aneinandergeknüpft. Eine Schlinge um einen Flaschenhals und unter unterdrücktem Lachen banden wir die Flasche an die Türklinke des Canadiens. Das Ende der Schnur zogen wir über die Straße, dann durch das Fenster in die Kneipe. Nun das Licht aus.
Charles zog mehrmals an der Leine. „Bumm, bumm!“, machte drüben die Flasche an der Tür. Nichts rührte sich. Nochmals. Nichts! „Der schnarcht so laut, dass er das Klopfen nicht hört! Warte etwas, bis er stiller wird, sonst geht die Flasche noch kaputt!“ Das Röcheln ließ nach, wahrscheinlich war er in Atemnot gekommen und holte Luft. „Bumm bumm bumm!“ Drüben rührte sich nichts. Nochmals: „Bumm bumm!“ Wir lauschten. Es war kein Schnarchen mehr zu hören, er schien wach zu sein. Und da erschien er am Fenster. Sein behaarter Oberkörper beugte sich hinaus, schaute nach beiden Seiten. Nichts zu sehen. Er ging zurück ins Zimmer. Bald hörten wir wieder sein Röcheln. „Bumm, bumm!“ Doch schon war er am Fenster; er hatte wohl nur so getan, als ob er schliefe. Er schaute in beide Richtungen über die verlassene, nächtliche Dorfstraße. Ihm schien etwas zu dämmern. Wir verhielten uns mäuschenstill. Wie würde er reagieren, wenn er den Trick merkte? Würde er die Polizei rufen wegen Ruhestörung? Manche taten das. Und er? Keiner kannte ihn näher, war es doch wohl dreißig oder mehr Jahre her, dass er ausgewandert war.
Er verschwand wieder, die Tür öffnete sich. Da stand er, nur mit der Pyjamahose bekleidet. Seine Hand tastete zur Türklinke und fand die Flasche, fand die Schnur. Er verschwand wieder im Haus, kam mit einem Messer zurück und schnitt die Flasche ab. Dann zog er an der Schnur, die über die Straße durch das Fenster in die Kneipe ging. Wir ließen los. Er zog die ganze Schnur zu sich rüber, wickelte sie auf und verschwand wieder im Haus. Ließ aber die Tür offen. „Warum lässt er die Tür offen? Was hat der vor? Holt er das Gewehr?“, flüsterte einer. Und da erschien er wieder, immer noch halb nackt. In einer Hand die Champagnerflasche mit der Schnur, in der anderen Hand eine andere Flasche. So ging er durch den Hof der Kneipe zur offenen Tür und rief: „Kommt nur raus, ich hab euch schon gesehen!“ Etwas geniert schaltete Charles die Neon ein, die nach kurzem Flackern grell die Gaststube erleuchteten. „Bonsoir, Monsieur Lafforgue!“, meinte einer von uns. „Ich heiß Roger!“, stellte er klar. Das klang schon mal gut! „Ich bringe euch eure Flasche zurück! Und da sie leer ist, habe ich eine volle mitgebracht!“, meinte er, indem er die andere Flasche auf den Tisch stellte, eine Flasche besten Whiskys! „Ihr habt mir meinen Schlaf geraubt, jetzt raube ich euch euren!“, lachte er, „ich gehe erst wieder, wenn die Flasche leer ist!“
Es dämmerte schon, als ich heimkam… Seit diesem Abend war der Canadien bei jeder Fete dabei, sprach mit allen, war von allen akzeptiert. Manchmal, wenn irgendwo ein Aperitif lief, verschwand er kurz und kam dann mit seinem alten Plattenspieler und einem Stapel Vinyl-Platten zurück. Bisweilen schlief er im Sitzen ein, schnarchte vor sich hin, bis er plötzlich wieder voll da war. Oder er holte ein Paar Kastagnetten, setzte seinen Strohsombrero auf und animierte alle zum Tanzen.
Nach einer Weile verkaufte er einen Teil seines Landes billig an Thierry, der oben im Gelände ein Erdhaus gebaut hatte und Heilkräuter anbauen wollte. Angeblich hatte der schon mit einer Hanfkultur begonnen, um den Boden zu verbessern. Das restliche Land auf der gegenüberliegenden Seite wollte er an Joey, einen Deutschen, verkaufen, der da oben leben wollte, weil er die Schnauze voll hatte von der Zivilisation. Die Wiesen, die Roger im Tal nach Bordebounaout besaß, bot er uns an. Auch Clement, der Garde Champêtre bot uns zwei Parzellen in diesem Tal an, weil sie alle es satthatten, dass Jean ihr Land benutzte und es weder sauber hielt noch etwas dafür gab. Doch waren dazwischen noch zwei andere Parzellen, die unserem früheren Eigentümer gehörten. Könnten wir die auch haben, hätten wir zumindest den Talgrund, das flachere Land. Und bei Eigenbedarf konnte ein Bauer einen Pächter hinauswerfen! Und Jean war ja schon über 10 Jahre in Rente und hatte außerdem keinen Vertrag.
Da kam es wie gerufen, dass Elie mir sagte, er hätte Marinette getroffen, die frühere Eigentümerin. Ihr Mann André war seit kurzem gestorben und in der Familiengruft beigesetzt. Inzwischen hatte sie auch ihren Laden in Castillon aufgegeben, die ‚Bonnetterie‘, worin sie an Marktagen Knöpfe und Nähgarn verkaufte. Auch fuhr sie nicht mehr mit ihrem Lieferwagen, einer lindgrünen ‚Estaffette‘ über Land, um ihren Zwirn zu verkaufen. Mittwochs hatte sie immer das ‚Bellongue‘ abgefahren, unser Tal, wo sie ihre Stammkunden besuchte. Jeden Nachmittag sah man ihren Wagen im Steinbruch von St. Lary geparkt, neben dem Minibus vom Pépé Rives, der, weil schulfrei war, erst wieder abends fuhr. Den rhythmischen Bewegungen des Fahrzeuges nach zu schließen, gab sie hier bestimmt Nähunterricht auf ihrer Maschine. Böse Zungen wie Esther behaupteten, sie pflege das horizontale Gewerbe, sei eine puta…
Jedenfalls hatte Marinette zu Elie davon gesprochen, das restliche Land im Tal verkaufen zu wollen. Ich fuhr also in die Stadt, um sie in ihrem Altenteil, das sie vom Verkauf unseres Hofes erworben hatten, zu besuchen. Es war ein regnerischer Tag und kühl. Nach einem Austausch von Neuigkeiten aus dem Tal kam auch Jousepoun, ihr Bruder herein. Patschnass vom Regen, die von Tropfen beperlte Baskenmütze