Die Pyrenäenträumer - Band 2. Wolfgang Bendick
auch nicht untätig gewesen und hatten ihre Tentakel ausgesandt. Wir fanden ihn nicht. Gut, es bestand immer noch die Möglichkeit, dass er trotzdem nach Deutschland getrampt war. Da gab es nur eine Möglichkeit, Gewissheit zu bekommen: Bei seiner Ex anzurufen!
Alain war froh, den Ort zu verlassen. Ihm war aufgefallen, dass es manchmal nach Kadaver gerochen hatte, aber bei den Schäfern der Umgebung war das ja eher normal! Ich nahm die Post mit und fuhr zurück. Ich suchte gerade in meinem Adressbuch nach der Nummer seiner Ex, als das Telefon klingelte. Ich hob ab und war kaum überrascht, dass sie es war, die anrief. Sie war beunruhigt, da sie lange nichts von Joey gehört hatte und wollte wissen, ob er noch in Frankreich sei. Als ich ihr sagte, ich wäre gerade dabei gewesen, ihre Nummer zu suchen, um sie zu fragen, ob er in Deutschland sei, war uns beiden klar, dass er nicht mehr lebte. Ich rief die Gendarmerie an. Diesmal kamen sie gleich. Wir fuhren rüber und ich erklärte ihnen die Sachlage. Dann machten sie sich ans Suchen. Am Abend hatten sie ihn gefunden. Eigentlich zuerst nur eine umgefallene Leiter im Gestrüpp. Er hing weit oben in einem der riesigen Kastanienbäume. Besser gesagt, das, was die Krähen und die Maden noch übrig gelassen hatten…
Ich fand sein Skizzenbuch. Zwischen den Zeichnungen hatte er hier und da Kommentare gemacht über die Welt und über sich selbst. Auch über mich. Irgendwie beneidete er unsere Schaffenskraft und wünschte sich, auch bald ein Haus inmitten grüner Wiesen zu haben. Doch zuerst mussten die Bäume weg… Von seinem Platz aus konnte er ja jede Bewegung verfolgen, die wir machten. Auf den letzten Seiten wurden die Worte verzweifelt. Da stand, dass er die Schnauze voll hat, nichts läuft, wie er will, wenn er überhaupt noch wüsste, was er eigentlich will! Er sei völlig pleite, und er wolle nicht mehr länger bei seiner Exfrau betteln gehen… Armer Joey, du hast es zu eilig gehabt! Hättest du noch einen Tag gewartet, hättest du all die Unterlagen in den Händen gehabt, die ich jetzt durchlese! Da schreiben die Ämter, dass du deine Aufenthaltsgenehmigung in der Präfektur abholen kannst und dass die Sozialhilfe bewilligt ist, sogar mit einer Nachzahlung für die letzten drei Monate, schon auf dein Konto überwiesen!
Ich kümmerte mich um die Einäscherung und schickte die Urne per Postpaket zu seiner Familie. Diese kamen ein paar Monate später in den Schulferien, die restliche Habe zu holen. Ich war zuvor noch rübergefahren um alles von Wert bei uns unterzustellen und auch den Strick zu entfernen, den die Gendarmen auf den Balkon geworfen hatten…
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François und Françoise von Rouech, aus der früheren Kommune, wollten mit ihren Kindern auswandern. Auf eine der Inseln. Seitdem unsere Kinder in die Schule gingen, hatten wir gelernt, dass Frankreich noch viele Kolonien besitzt, heute ‚Übersee-Departements‘ genannt, von denen die bekanntesten die Réunion-Inselgruppe ist, Tahiti, Neukaledonien und Guyana. Sie wollten alles, was sie nicht mitnehmen konnten, verkaufen. Wir besuchten sie, um zu sehen, was das alles sei. Da war zuerst mal ein dicker Stapel Langspielplatten mit all der Rock-Musik, die wir gerne hörten, aber nie das Geld gehabt hatten, welche zu kaufen. Auch besaßen wir keinen Plattenspieler. Ich suchte die mir bekannten raus und wir einigten uns schnell auf den Preis. Am Ende gaben sie uns noch den Rest so dazu. Weiterhin verkauften sie eine riesige Saftpresse und den dazugehörenden Zerkleinerer. Diese interessierte uns am meisten, boten uns doch die Bauern im Herbst immer an, die Äpfel aus den Wiesen zu sammeln, damit die Kühe nicht daran ersticken könnten. Doch wie das vielleicht 150 Kilo schwere Teil hinunter bekommen? Sie hatten seit kurzer Zeit eine Art Weg baggern lassen, von ihrem Land auf einen öffentlichen Weg, sehr steil, aber gerade noch befahrbar mit ihrem Hürlimann-Traktor, mit dem sie von Savoyen bis hierher gefahren waren. Wir entfernten die Spindel aus der Bodenplatte der Presse und banden sie der Länge nach unter den Traktor. Die Bodenplatte und den Muser befestigten wir im Heckhubwerk.
Es war ein schöner Sommernachmittag und wir saßen vor ihrem Haus, dessen Läden und Türen mit einem so grellen Hellblau gestrichen waren, dass man das Haus oben am Hang von weit entfernt sehen konnte. Unter uns breitete sich das Tal von St. Lary mit seinen kleinen Seitentälern aus, am Grund die Wiesen, an den Hängen der Tannenwald, darüber die Almen, schimmernd in verschiedenen Schattierungen von Grün. Zwischendrin die Farbtupfen der kleinen Höfe, untereinander verbunden durch die schlangenförmigen grauen Bänder der Straßen. Weiter rechts der Einschnitt des Col de Portet d’Aspet, wo das ‚Schöne Lange‘, wie unser Tal genannt wird, endet. Wir rauchten eine Friedenspfeife und redeten über die Gegend und die Leute. Als sie mit ihrem Traktor hier angekommen waren, waren sie damit über die Wiesen zu sich hochgefahren. Das hatte einigen Nachbarn nicht gefallen, und sie hatten ihnen das Darüberfahren verboten. Also konnten sie auch nicht mehr mit dem Traktor hinunter…
Doch hatten sie eine Parzelle vorm Haus, die ziemlich steil bis zu einem Gemeindeweg hinabführte. Da sie kaum Wald besaßen heizten sie mit Öl. Um ihr Öl hoch zu schaffen, befestigten sie eine Rolle an einem Baum und ließen mit dem Traktor an einem Seil einen Anhänger hinunter, auf dem sich ein Tank befand. Als der Tank vom Lieferfahrzeug gefüllt war, zogen sie ihn hinauf. Fast oben, riss das Seil und der Wagen raste auf die Siedlung zu. Bevor er jedoch die Häuser erreichte, stellte er sich, wie durch ein Wunder, auf einem flacheren Stück Land quer und kam zum Stehen. Sie wollten ebenfalls ihren Allradtraktor verkaufen. Dieser war sehr alt und zudem ziemlich hoch. Ich war unentschlossen, ich wollte keinen Schrotthaufen kaufen. Beim Transport der Saftpresse fuhr ich hinterher. Dabei fielen mir so manche Schwachstellen daran auf: Er verlor Öl und das Heckhubwerk sackte dauernd ab. Es waren Reparaturen angesagt! Ich lehnte ab. Das Auswandern verschoben sie bald darauf auf das nächste Jahr. Vorerst waren die großen Ferien angesagt.
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Isabelle, das Mädchen aus Portet d’Aspet, ging im neuen Schuljahr ins College nach St. Girons und wohnte im Internat. Es fehlte also ein Kind, um die Mindestzahl von fünf Schülern zu haben, die garantierten, dass die Schule erhalten blieb. Wir waren mit unseren Kindern an der Schule, ebenfalls die Lehrerin mit ihren zwei schulpflichtigen. Langsam wurde sie unruhig. Keine Alice in Sicht, obwohl die Eltern gesagt hatten, dass sie kommen würde! Am Mittag wollte der Inspektor vorbeikommen. Und bei nur vier Kindern bedeutete dieses das Aus!
Die Schule ist eines der grundlegenden Dinge, die ein Dorf lebendig halten. Und ein Gasthaus. Früher war zusätzlich die Kirche gewesen. Doch dahin ging niemand mehr, außer zu Beerdigungen! Die Einwohner waren geteilter Meinung. Die einen schlossen sich dem Bürgermeister an, der sagte, die Schule mache nur Unkosten, vor allem im Winter. Er weigerte sich, den Heizöltank voll zu machen, mit der Begründung, wo er klein war, mussten alle Kinder ein Holzscheit mit in die Schule bringen, sonst saßen sie im Kalten! Aber jetzt war noch nicht einmal der Holzofen mehr da! Und eine Schule nur für die Kinder der Hippies zu unterhalten, von denen die meisten ja nicht mal in der Gemeinde wohnten? Das einzige einheimische Kind des Dorfes wurde von seinen Eltern jeden Morgen nach Argein gefahren, damit es nicht mit den Hippiebälgern in einem Raum sitzen musste. Die Gemeinde weigerte sich außerdem, den Strom zu bezahlen. Oder einen Schultransport zu organisieren. Oder eine Kantine zu machen, oder nur eine Person anzustellen, die die Kinder beim Essen überwachte… Alleine durfte man die Kinder nicht lassen. Also organisierten wir das alles selber.
Wir Eltern bezahlten eine Person stundenweise, die die Kinder in der Mittagspause überwachte. Das war ein chronischer Arbeitsloser, der das schwarz machte, da er sonst weniger Beihilfe bekommen hätte. An einem Abend weinte unsere Sarah, als wir die Kinder abholten. Der Aufseher hatte ihr einen Tritt in den Hintern gegeben, so beim Rumalbern. Das gefiel uns nicht sehr. Sie hatte sich umgedreht und ihm einen zurückgegeben. Das gefiel uns eher, für ein Kind mit sieben Jahren! Doch daraufhin habe er sich gekrümmt und den Arzt kommen lassen. Ich ging rüber, und wollte mit ihm reden. Seine Frau sagte, er sei wegen lauter Schmerzen gerade erst eingeschlafen, und sie wolle ihn jetzt nicht stören. Morgen früh wäre das günstiger! Also brachte ich die Kinder etwas früher zur Schule und ging rüber. Die Frau sagte, dass er noch schliefe und ich solle warten, bis er aufwache. Ich solle mich so lange ins Wohnzimmer setzen. So nach einer Viertelstunde hörte ich ein Auto, hörte leise Türen gehen und Flüstern. Dann kam die Frau mich holen, da er gerade aufgewacht sei. Da lag er im Bett und krümmte sich vor Schmerz, weil unser Kind ihm das Steißbein gebrochen hätte, und das gerade jetzt, wo er nach Bordeaux müsste, zu einem Vorstellungsgespräch für einen Superjob! Und der würde ihm jetzt durch die Lappen gehen! Er würde Klage wegen Körperverletzung einreichen und wolle Schadenersatz