Kyla – Kriegerin der grünen Wasser. Regina Raaf
Rasch legte sie das glatt polierte Holzstück wieder zurück, ihre Hand schloss sich stattdessen um den Griff des mitgeführten Messers, als der Mann auch schon seine Worte an sie richtete.
»Kyla, Kriegerin der grünen Wasser? – Wie lange ist unser Treffen jetzt her? Es kommt mir vor wie Ewigkeiten!« Der Mann strahlte übers ganze Gesicht. Kyla konnte eine Reihe gelblicher Zähne zwischen einem dunklen Vollbart auftauchen sehen, bevor der Mann den Mund wieder schloss und sich verlegen am Kopf kratzte.
»Ich Narr stelle mich dir in den Weg, obwohl ich um deine Kampfkunst weiß, und bringe mich damit in Gefahr. Denn natürlich erinnerst du dich gar nicht mehr an mich. Du musst mich für einen Dieb, oder eine andere zwielichtige Gestalt halten.«
»Der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen. Zudem halte ich dich für recht unverschämt, weil du mich so vertraulich ansprichst, als seien wir alte Freunde. Mag sein, dass du mein Gedächtnis diesbezüglich auffrischen musst, aber wie auch immer ... Es stimmt, meine Kampfkunst solltest du besser nicht unterschätzen.« Sie zeigte ihm das Messer, das sie bereits in der Hand hielt, um sich notfalls verteidigen zu können. Der Mann lächelte. »Ich unterschätze dich schon seit damals nicht mehr, als du nach Lam Olhana kamst.«
Endlich begriff Kyla, warum ihr die Gesichtszüge des Mannes bekannt vorkamen.
»Lopal! Du bist es!«
»Du kennst meinen Namen noch?«, wunderte er sich.
»Aber natürlich! Es war eine aufregende Zeit damals. Sie hat sich mir ganz besonders ins Gedächtnis gegraben.«
»Ich wünschte, es wären schönere Dinge gewesen, an die du dich zurückerinnern kannst.« Er sah sie unglücklich an. Kyla steckte das Messer ein. »Es gibt genügend schöne Erinnerungen, sorge dich nicht. Wenn du etwas Zeit hast, dann erzähle mir doch, was dich hierher geführt hat. Und wie es dir und den Bewohnern deines Dorfes inzwischen ergangen ist.«
»Das werde ich sehr gerne tun. Aber vielleicht sollten wir dafür einen ruhigeren Ort wählen.« Einige Marktbesucher drängten sich an ihnen vorbei und stießen sie dabei immer wieder an.
»Ich hörte von einem Wirtshaus in der Nähe, das recht gemütlich sein soll. ‘Handuls Schenke’, wenn ich mich recht entsinne.«
»’Handuls Schenke’? Ja, die ist mir bekannt. Eine gute Wahl!« Lopal deutete in die Richtung, in die sie gehen mussten. Kyla folgte ihm, bis sie vor dem Gebäude ankamen. Es war unscheinbar im Gegensatz zu dem Gasthaus, das nach ihr benannt worden war. Kyla schloss die Schenke sofort ins Herz und sah sich neugierig um, als sie sie betraten. Es war düster darin, aber auf eine angenehme Art.
Der Wirt hieß sie willkommen und erkundigte sich nach ihren Wünschen, als Kyla und Lopal an einem Tisch in der Ecke Platz genommen hatten. Kyla wusste bereits, was sie trinken wollte, denn auf einem Schild hatte sie gesehen, dass hier Blandur ausgeschenkt wurde – ein Bier, das in Tritam gebraut wurde und den Namen seines Braumeisters trug. Sie freute sich darauf, das alkoholische Getränk endlich probieren zu können. Kyla wusste, dass ihr Lehrer Hirlay eine Vorliebe für dieses Gebräu hatte. Einmal, kurz vor ihrer Abreise, hatte sie ihn angetroffen, als er dem Getränk über die Maßen zugesprochen hatte. Normalerweise war es ihr alter Lehrer gewesen, der stets wollte, dass sie ihm zuhörte, doch an diesem Abend hatte er ihr mit Interesse gelauscht, und wohl zum ersten Mal wirklich begriffen, welchen Verlust Kyla an dem Tag erlebt hatte, bevor sie Bahanda in wilder und auch reichlich törichter Wut zu einem Kampf auf Leben und Tod herausgefordert hatte. Hirlay hatte schließlich tief geseufzt und gesagt: »Die Verluste und die Schmerzen, die man durchleidet, bringen manchmal etwas Neues hervor. Oft ist es etwas, das wir nicht wollen. Eigenschaften, die uns innerlich zerfressen. Aber Verluste sind auch notwendig, um zu reifen ... um eine neue Richtung einzuschlagen.« Kyla – durch den engen Kontakt mit ihm mutiger geworden – hatte ihn gefragt, ob auch er einen Verlust erlebt hatte, durch den er eine neue Richtung eingeschlagen hatte.
»Ich wäre niemals Lehrer geworden, wenn es nicht ... einen Vorfall gegeben hätte.« Als er daraufhin schwieg, hatte Kyla sich nach dem besagten Vorfall erkundigt, doch egal wie viel Blandur Hirlay an dem Abend noch trank, er gab ihr darauf keine Antwort mehr, sondern war wieder in die Rolle des Lehrers geschlüpft. Er hatte ihr von den Sternen erzählt, die sie am Himmel sahen, und von den Pflanzen, die um sie herum wuchsen. Kyla hatte es schließlich aufgegeben.
Das Bier hatte ihr nicht alle Wahrheiten gebracht, die sie erhofft hatte, doch es jetzt mit Lopal zu genießen, kam ihr nur gerecht vor. Es machte sie beschwingt und frei – und Kyla fand, dass das durchaus akzeptabel war. Denn als sie sich das letzte Mal in Lam Olhana gesehen hatten, war dies ihre Feuerprobe als Kämpferin gewesen. Eigentlich hatte sie nur den Schmied Braylon aus diesem Dorf abholen sollen, doch dann war sie auf den einsamen Wächter Lopal getroffen, der völlig verzweifelt gewesen war, weil er sein Dorf nicht mehr gegen die Eindringlinge von außerhalb der Undurchdringlichen Mauern hatte schützen können.
Kyla hatte damals spontan entschieden, ihren eigentlichen Auftrag aufzuschieben und Lopal so gut zu unterstützen, wie es ihr möglich war. Wie sich herausstellte, war sie ihm eine große Hilfe. Sie hatte mit ihrem Geschick im Kampf und ihrer Entschlossenheit gezeigt, dass sie ihren Status als Kriegerin der Herrscherin absolut verdient hatte und ihren Aufgaben gewachsen war. Damals war sie jedoch noch ein Kind gewesen, und seitdem hatten Lopal und sie sich nicht mehr gesehen. Dass er sie trotz ihres Standes immer noch mit Du ansprach, fand Kyla nur gerecht. Nun, da sie bei einem Bier zusammensaßen, und der Wächter sie immer wieder lächelnd betrachtete, als könne er diesen Zufall noch nicht ganz fassen, fragte Kyla: »Ähnle ich dem Kind von einst so sehr, dass du mich sofort erkannt hast?«
»Was? Nein, keineswegs! Aus dir ist eine schöne und stolze Frau geworden – ganz so, wie ich es mir schon dachte. Doch dass ich dich erkannte, ist wohl kaum ein Wunder in dieser Stadt, meinst du nicht auch?« Er lächelte nun mit mildem Spott.
»Ich verstehe nicht ... Warum ist es kein Wunder in dieser Stadt? Ich war zuvor noch nie hier.«
Lopal nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Krug und stellte ihn dann ab. Jetzt hatte er beide Hände frei und wies damit auf die Wände zu ihrer rechten und linken Seite. Kyla folgte der Geste mit ihrem Blick, verschluckte sich vor Schreck am Bier und hustete heftig. Lopal wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte und sagte dann grinsend: »Ist dir bisher noch nicht aufgefallen, dass es hier überall Gemälde von dir gibt? Die Chyrrta dieser Stadt verehren dich. Zugegeben, die Bilder weichen ein wenig von der Realität ab, doch ich habe dich sofort erkannt. Und das werden ganz sicher auch noch andere Stadtbewohner tun. Sei also darauf gefasst, dass man dich hier mit Geschenken und Wohlwollen überhäufen wird.«
»Der Händler, bei dem ich ein Duftwasser erstand, hat mir dennoch sehr gerne mein Geld abgenommen – und nicht gerade wenig, wie ich wohl anmerken darf. Wenn er mich erkannt hat, dann wusste er das gut zu überspielen.« Nun lachte Lopal. »Die Händler sind ein ganz eigenes Völkchen. Die müssen immer auf Profit aus sein, sonst werden sie ganz schnell zum Verräter ihrer eigenen Zunft. Und glaube mir, sie sind blind für das Aussehen ihrer Kunden, denn es ist einzig und allein deren Geld, das sie im Blick haben.«
Das schien Kyla einleuchtend. Dennoch bezweifelte sie, dass man sie tatsächlich erkennen würde. Der Wächter am Stadttor hatte sie jedenfalls nicht auf Anhieb erkannt – sie schöpfte Hoffnung, dass Lopal übertrieb. Er sah sie aufmerksam an und hatte wohl das Wechselbad ihrer Gefühle erraten.
»Du möchtest das gar nicht, nicht wahr? Du bist hergekommen, weil du glaubtest, die Stadt in Ruhe und unerkannt entdecken zu können. Oder bist du hier gar mit einem Mann verabredet? Es gibt viele ansehnliche Männer in dieser Stadt, die zudem gebildet sind. Und hier ist mehr los, als rund um den Palast. Ich könnte es verstehen, wenn du hergekommen bist, um eine stürmische Romanze ohne die gesellschaftlichen Zwänge zu erleben.« Er zwinkerte ihr zu, und sein Gesicht errötete ein wenig bei diesem aufregenden Gedanken. Kyla wunderte sich ein wenig über die Fantasie des Mannes.
»Tatsächlich ist ein Mann der Grund, warum ich herkam. Aber es handelt sich nicht um eine Romanze, sondern um einen Flüchtigen.« Lopal schien enttäuscht zu sein. »Dann besteht dein Leben also nur aus Pflichten?« Kyla dachte nach. »Ich weiß nicht ... Es ist eine lebenslange