Die Leben des Michael Kassel. Hannes van de Lay

Die Leben des Michael Kassel - Hannes van de Lay


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auf und sah in das lächelnde Gesicht der Schwester.

      Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wo ich mich befand.

      »Sie haben im Schlaf gestöhnt und Ihren Kopf von einer Seite zur anderen geworfen. Ich hielt es für besser, Sie zu wecken. Außerdem wird Dr. Gajewski gleich nach Ihnen sehen.«

      Sie behielt ihr Lächeln auf den Lippen und hätte mein Verband nicht gestört, ich hätte zurückgelächelt, so wohltuend war es.

      »Haben Sie schlecht geschlafen?«

      »Nein, im Gegenteil«, antwortete ich. »Geschlafen habe ich ausgezeichnet, nur der Traum war etwas merkwürdig.« Meine Stimme hörte sich schon besser an als gestern. Zumindest schien es mir so.

      »Wie heißen Sie?«, fragte ich die Schwester und sie zeigte auf ihr Namensschild.

      »Ich bin Schwester Judith.«

      Wie dumm von mir, dachte ich. »Tut mir Leid, dass ich mich nicht vorstellen kann, aber ich bin inkognito hier.« Ich wunderte mich selbst über meinen schwarzen Humor. Schwester Judith fand meine Bemerkung offensichtlich amüsant. »Nun, dann wollen wir hoffen, dass Sie uns Ihren Namen bald preisgeben.« Sie zog die Bettdecke zurecht, lächelte mir noch einmal zu und verließ das Zimmer.

      Es dauerte keine fünf Minuten, bis die Tür schwungvoll aufgestoßen wurde und Dr. Gajewski eintrat. »Guten Morgen, der Herr, und wie geht es uns heute?«

      »Besser«, entgegnete ich und es war noch nicht einmal geschwindelt.

      Die Depression war von mir abgefallen. Natürlich war ein bitterer Nachgeschmack geblieben und die Verstimmungen würden vielleicht auch zurückkehren, aber im Moment fühlte ich mich einigermaßen gut.

      »Das freut mich.« Der Arzt zog einen Stuhl heran und setzte sich. Lächelnd begann er den Gesichtsverband abzutasten. »Den machen wir heute Nachmittag ab!«, stellte er etwas salopp in Aussicht.

      »Was ist mit den Verbrennungen?« Ich sah ihn erwartungsvoll an.

      Dr. Gajewski hielt meinem Blick stand, nahm jedoch einen tiefen Atemzug, bevor er mir antwortete.

      »Nun, Sie haben Verbrennungen dritten Grades erlitten, das heißt, dass eine plastische Deckung notwendig war.«

      Er sah mich prüfend an.

      »Eine Hauttransplantation?«, fragte ich ihn mit unsicherer Stimme.

      »Ja, das ist richtig!« Er begann zu lächeln. »Zu diesem Zweck haben wir einen Hautlappen Ihres linken Oberschenkels verwandt.«

      Ich hatte schon einmal von solchen Transplantationen gehört. Irgendwo aus dem Chaos filterte mein Gehirn auch dieses Wissen. Ich wusste auch, dass es sogenannte Schönheitschirurgen gab, welche die wundersamsten Dinge mit einem Skalpell vollbringen konnten.

      Aber der Gedanke, dass sich in meinem Gesicht irgendwelche verkohlten Stellen oder riesige Narben kreuz und quer hindurchzogen, machte mir Angst.

      Unvermittelt tauchte in mir das Bild eines maskierten Gesichtes auf, eine vage Erinnerung, ja „Phantom der Oper“, so hieß die Gestalt. Vielleicht brauchte auch ich in Zukunft solch eine Maske.

      Als hätte Dr. Gajewski meine Gedanken erraten, beugte er sich etwas nach vorne und berührte leicht meinen Arm, um mich zu beruhigen.

      »Ich kann mir vorstellen, was jetzt in Ihnen vorgehen mag. Aber glauben Sie mir, wir sind heutzutage in der Lage Hauttransplantationen durchzuführen, bei denen nichts weiter als geringfügige Narben zurückbleiben. Sogar diese verblassen nach einigen Monaten, so dass selbst derjenige, der weiß, wo sie sich befinden, sie nur bei genauem Hinsehen entdecken kann.«

      Ich wollte ihm das glauben, allzu gerne wollte ich ihm das glauben und hoffte, er möge Recht haben.

      Ich hielt in meinem Gedankengang inne, als ich sah, dass sich sein Gesicht sorgenvoll verdüsterte. »Wir hatten allerdings ein Problem.«

      Seine Stimme hörte sich plötzlich ernst an.

      »Da wir nicht wussten, wer Sie sind und Sie keinen Ausweis oder Führerschein bei sich hatten, wussten wir somit auch nicht, wie Sie vor dem Unfall aussahen. Jedoch duldeten Ihre Verletzungen keinen Aufschub. So haben wir Ihr Gesicht nach bestem medizinischen Wissen, aber auch ohne eine Vorstellung von Ihrem früheren Aussehen zu haben, operieren müssen. Ich hoffe, dass Sie unsere Entscheidung verstehen. Die Umstände haben uns zu diesem Schritt gezwungen.«

      Seine Augen baten um mein Einverständnis.

      Ich brauchte einige Minuten um zu begreifen, was das bedeutete. Aber vorerst machte mir diese Ankündigung noch nicht einmal so sehr Kopfzerbrechen, wusste ich doch selbst nicht, wie ich ausgesehen hatte. »Wer weiß, vielleicht sehe ich besser aus als vorher«, antwortete ich. Es sollte ein Scherz sein, klang aber irgendwie unnatürlich. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut.

      »Heute Nachmittag wissen wir mehr«, sagte der Doktor und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Seine Routine war zurückgekehrt. Er stand schwungvoll vom Stuhl auf und gab mir die Hand. »Bis später!«

      Ich nickte ihm leicht zu und sah ihm nach, wie er schnellen Schritts den Raum verließ.

      Ich war allein. Allein mit mir und meinen Gedanken.

      Was würde ich wohl empfinden, wenn ich in den Spiegel sah? Entsetzen? Ekel? Angst vor etwas Fremdem?

      Aber vielleicht hatten sie auch ganze Arbeit geleistet, ja vielleicht unterschied sich mein jetziges Gesicht nur unwesentlich von meinem alten. Und vielleicht erkannte ich mich mit ein klein wenig Glück wieder und fand zu meinen Erinnerungen.

      Ich gestand mir ein, dass wenig Aussicht auf Erfolg bestand. Aber es war eine Möglichkeit, über die nachzudenken sich lohnte. Ja, es war ein Hoffnungsschimmer. Was wäre jedoch, wenn diese glückliche Wendung nicht einträte?

      Was wäre, wenn ich mich nicht erkannte? Was würde sein, wenn mein Gesicht ein ganz anderes als das vorherige wäre? Ich würde dies zwar nicht beurteilen können, geschweige denn mit Sicherheit sagen. Aber rein hypothetisch gesehen: Was wäre dann?

      Hatte ich bis dahin noch die Hoffnung, dass mich zumindest jemand wiedererkennen würde, so wäre diese dann erloschen. Ich konnte an meinem besten Freund oder an meiner Frau, wenn ich denn verheiratet war, vorbeimarschieren, ohne dass ich sie oder sie mich erkannten. Keine schöne Aussicht!

      Niedergeschlagen schloss ich die Augen. Ein Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit überkam mich. Ich spürte, wie ein leises Schluchzen in mir aufstieg und lauter wurde.

       Das Leuchten des üppigen Grüns ließ mich meine Augen zusammenkneifen. Ich war umgeben von unzähligen Weinstöcken, die ordentlich in Reihen standen. Ich roch den würzigen Geruch von reifen Trauben, die mit großer Gier die Sonnenstrahlen aufzusaugen schienen. Langsam schritt ich die Reihen entlang. Sie schienen unendlich zu sein.

       Dann plötzlich sah ich ein Haus, verziert mit Erkern und Türmen. Majestätisch lag es auf einem Hügel, umgeben von riesigen Tannen.

       Meine Füße führten mich zu ihm hin. Ich verspürte einen Drang in mir, nach Hause zu gehen. Spürte, wie ein Gefühl der Geborgenheit in mir emporstieg. Ich war voller Erwartung. Voller Sehnsucht. Doch plötzlich trübte sich das Bild vom wunderschönen Haus. Es verschwamm immer mehr vor meinen Augen. Ich streckte die Hand aus, als könnte ich es festhalten.

      Sekunden später war ich wach. Das Bild des Hauses war nicht ganz verschwunden. Ich spürte noch die innere Bewegung, die der Traum hervorgerufen hatte. Diese Träume hatten etwas Geheimnisvolles an sich und trotzdem riefen sie auch etwas Vertrautes in mir wach. Ein wundervolles Gefühl aus Geborgenheit und Sehnsucht. Ich hatte große Lust noch mehr davon zu kosten.

      Waren diese Träume nur Wunschvorstellungen oder gehörten sie zu meiner Vergangenheit? Waren es bloß Hirngespinste oder zeigten sie mir den Weg zu meinem eigentlichen Ich?

      Langsam zog ich mich ein wenig nach oben und lehnte meinen verbundenen Kopf an


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