Nostromo. Joseph Conrad
Türe an. Schließlich zuckte er die Schultern, als wollte er vor sich selbst seine Mißachtung bestätigen. Kalt, dumm. Keinen Verstand, rotes Haar. Richtiger Engländer – er verachtete ihn.
Sein Gesicht verdunkelte sich. Was sollte dieses unbeteiligte, kühle Benehmen? Er war der erste in der Reihe der aus der Hauptstadt zur Regierung der Westlichen Provinz herübergesandten Politiker, der das Benehmen Charles Goulds in amtlichen Unterredungen als beleidigend unabhängig empfand.
Charles Gould war zu dem Entschluß gekommen, daß, wenn schon das scheinbare Anhören trostlosen Gewäsches einen Teil des Preises bilden mußte, den er zu zahlen hatte, um unbelästigt zu bleiben – daß doch die Verpflichtung, selbst Unsinn zu reden, keineswegs in den Handel eingeschlossen war. Hier zog er den Trennungsstrich. Diesen Provinzautokraten, vor denen zu zittern die friedliche Bevölkerung gewöhnt worden war, verursachte die Zurückhaltung dieses englischen Ingenieurs ein Unbehagen, das zwischen Kriecherei und Roheit schwankte. Nach und nach kamen sie alle dahinter, daß der Mann ohne Rücksicht darauf, welche Partei gerade am Ruder war, in sehr nachhaltiger Berührung mit den höheren Behörden in Sta. Marta blieb.
Dies war eine Tatsache, und sie bildete die ausreichende Erklärung für die andere, daß die Goulds bei weitem nicht so reich waren, wie der Chefingenieur der neuen Bahnstrecke mit Recht annehmen zu können meinte. Dem Rat Don José Avellanos' folgend, der ein verständiger Mann war (wenn auch etwas verschüchtert durch seine furchtbaren Erfahrungen zur Zeit Guzman Bentos), hatte sich Charles Gould von der Hauptstadt ferngehalten; doch war er im Lokalklatsch unter den ansässigen Ausländern (mit einem gut Teil Ernst unter dem Spott) unter dem Spitznamen des »Königs von Sulaco« bekannt. Ein Anwalt am Gerichtshof von Costaguana, bekannt für seine Geschicklichkeit und seinen anständigen Charakter, ein Mitglied der vornehmen Moragofamilie, die ausgedehnte Ländereien im Tale von Sulaco besaß, wurde mit einer Mischung von Geheimnistuerei und Hochachtung den Fremden gezeigt, als der Agent der San-Tomé-Mine – »politisch, Sie verstehen«. Er war hochgewachsen, schwarzbärtig und verschwiegen. Es war bekannt, daß er leichten Zutritt zu Ministern hatte und daß die zahlreichen Costaguana-Generäle immer mit Vergnügen dabei waren, in seinem Hause zu speisen. Die Präsidenten gewährten ihm mit Leichtigkeit Audienz. Er stand in regem Briefverkehr mit seinem Oheim Don José Avellanos; seine Briefe aber – mit Ausnahme derer, die nur die Zusicherung unwandelbarer Zuneigung enthielten – wurden selten dem Postamt von Costaguana anvertraut, denn dort wurden die Umschläge geöffnet, unterschiedslos, mit all der unverhohlenen, kindischen Unverschämtheit, die so viele spanisch-amerikanische Regierungen kennzeichnet. Doch muß bemerkt werden, daß ungefähr zur Zeit der Wiedereröffnung der San-Tomé-Mine der Maultiertreiber, den Charles Gould bei seinen vorhergehenden Reisen im Campo beschäftigt hatte, sich mit seinen Tieren dem schwachen Handelsverkehr anschloß, der zwischen dem Hochland von Sta. Marta und dem Tale von Sulaco über die Bergpässe weg bestand. Auf dieser unwegsamen, gefährlichen Straße gibt es keine Reisenden, außer unter sehr ungewöhnlichen Umständen, und der Stand des inländischen Handels schien ein Anwachsen der Verkehrsmittel nicht zu rechtfertigen. Und doch schien der Mann dabei auf seine Rechnung zu kommen; immer fanden sich ein paar Packladungen für ihn, sooft er sich auf den Weg machte. Dunkelbraun und hölzern, in Ziegenfellhosen mit dem Haar nach außen, saß er nahe beim Schwanz seines Lieblingsmaultiers, den großen Hut der Sonne zugekehrt, einen Ausdruck zufriedener Verträumtheit auf dem langen Gesicht, und summte Tag um Tag ein schmachtendes Liebeslied vor sich hin oder schickte, ohne den Ausdruck zu wechseln, den Tieren vor ihm einen gellenden Schrei zu. Eine runde kleine Gitarre hing ihm hoch auf dem Rücken, und im Holz eines der Packsättel war künstlich ein kleines Loch ausgehöhlt, in das ein kleines Papierröllchen geschoben werden konnte; dann wurde der hölzerne Stöpsel wieder eingesetzt und die rauhe Packleinwand darüber genagelt. Wenn er in Sulaco war, so pflegte er den ganzen lieben Tag (als hätte er keine Sorge in der Welt) auf einer Steinbank vor dem Torweg der Casa Gould, den Fenstern des Hauses der Avellanos gegenüber, zu ruhen und zu faulenzen. Vor vielen Jahren war seine Mutter die erste Wäscherin in jener Familie gewesen – sehr tüchtig im Glanzbügeln. Er selbst war auf einer der Haziendas der Avellanos geboren. Er hieß Bonifacio, und Don José versäumte es nie, wenn er zu seinem Besuch bei Doña Emilia gegen fünf Uhr nachmittags die Straße überquerte, für den demütigen Gruß des Mannes durch eine Bewegung des Kopfes oder der Hand zu danken. Die Pförtner beider Häuser führten mit ihm eine träge Unterhaltung, im Ton ernster Vertraulichkeit. Seine Abende benutzte er zum Würfelspiel, in besonders festlicher Stimmung zu Besuchen bei den »Peyne d'oro«-Mädchen, in den entlegenen Seitengassen der Stadt. Doch war auch er ein verschwiegener Mann.
8
Wer von uns in jenen Jahren vor Beginn der neuen Eisenbahnlinie durch Geschäft oder Neugier nach Sulaco geführt wurde, wird sich noch gut der beruhigenden Wirkung erinnern, die die San-Tomé-Mine auf das Leben in jener entlegenen Provinz ausübte. Äußerlich hatten sich die Verhältnisse damals noch nicht so weit geändert, wie es seither, soviel man mir sagte, geschehen ist – mit einer Trambahn durch die Verfassungsstraße, Fahrstraßen weit ins Land hinaus, nach Rincon und andern Dörfern, wo die fremden Kaufleute und die Ricos meistens ihre neuzeitlichen Villen haben, und einem großen Güterbahnhof nächst dem Hafen, der einen eigenen Ladekai, lange Reihen von Warenschuppen und seine ganz ernsthaften und organisierten Arbeiterunruhen hat.
Damals hatte noch nie jemand von Arbeiterunruhen gehört. Die Cargadores des Hafens bildeten tatsächlich eine etwas widerspenstige Gilde aus allerhand Gesindel, mit ihrem eigenen Schutzpatron. Sie streikten regelmäßig (an jedem Tage eines Stiergefechts), und selbst Nostromo auf der Höhe seiner Macht war außerstande, mit diesem Mißstand aufzuräumen. Am Morgen nach jeder Fiesta, bevor die indianischen Marktweiber auf der Plaza ihre Mattendächer aufgespannt hatten, wenn die Schneefelder des Higuerota hoch über der Stadt noch bleich gegen den dunklen Himmel standen, da pflegte die Erscheinung eines gespenstischen Reiters auf silbergrauer Stute die Arbeiterfrage einwandfrei zu lösen. Der Gaul sprengte durch die elenden Hintergäßchen und die verwilderte Einzäunung innerhalb der alten Wälle, durch das schwarze, lichtlose Gewimmel von Häuschen, die Kuhställe oder Hundehütten schienen. Der Reiter hämmerte mit dem Kolben eines schweren Revolvers an die Türen von Pulperias, von jämmerlichen Unterschlupfen, die sich gegen die verfallenen Reste einer Palastmauer lehnten; an Holzwände, die so dünn waren, daß in den Pausen zwischen den donnernden Schlägen von drinnen Schnarchen und verschlafenes Gemurmel zu hören war. Der Reiter rief vom Sattel aus drohend die Namen von Männern, einmal, zweimal. Die undeutlichen Antworten – mürrisch, versöhnlich, wild, scherzhaft oder abbittend – klangen in das schweigende Dunkel, in dem der Reiter hielt, und bald darauf schoß wohl auch hustend eine dunkle Gestalt in die Morgenluft heraus. Manchmal rief eine sanfte Frauenstimme demütig durch das Fensterloch: »Er kommt sofort, Señor«, und der Reiter wartete schweigend auf seinem reglosen Pferde. Sah er sich aber gezwungen, abzusitzen, dann flog wohl nach einer Weile aus der Tür jener Hütte oder jener Pulperia mit wildem Getöse und verstärktem Wehklagen ein Cargador heraus, den Kopf voran und die Hände gespreizt, zwischen den Vorderbeinen der grauen Stute hindurch, die nur ihre scharfen kleinen Ohren spitzte; sie war an die Arbeit gewöhnt. Und dann raffte sich der Mann auf und rannte vor Nostromos Revolver davon, ein wenig unsicher auf den Beinen und leise fluchend. Wenn Kapitän Mitchell bei Sonnenaufgang in seinem Nachtgewand besorgt auf den hölzernen Balkon heraustrat, der der ganzen Länge des einsam stehenden O. S. N. Gebäudes entlang lief, dann konnte er die Leichter schon unterwegs sehen, Leute geschäftig an der Arbeit bei den Lastkränen, und vielleicht den unschätzbaren Nostromo hören, der nun abgesessen, im gewürfelten Hemd und der roten Leibbinde eines mittelländischen Seemanns, vom Ende des Landungsstegs her mit Stentorstimme Befehle brüllte. Ein Bursche, wie es unter Tausenden nur einen gab!
Fortschritt und Zivilisation mit ihrem mechanischen Beiwerk, das die Eigenart alter Städte unter dem herkömmlichen Gleichmaß neuzeitlichen Lebens begräbt, waren noch nicht eingedrungen. Doch über die verträumte Altertümlichkeit Sulacos, so eigenartig mit den stuckverzierten Häusern, den vergitterten Fenstern, den großen gelbweißen Mauern verlassener Klöster hinter Reihen dunkelgrüner Zypressen – über all dies hatte die San-Tomé-Mine, sehr neuzeitlich in ihrem Geiste, schon merklich Einfluß gewonnen. Die Mine hatte auch in das äußere Aussehen der Menge, die sich an Festtagen vor