Nostromo. Joseph Conrad

Nostromo - Joseph Conrad


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daß man von dem Vorbau der Posada in Rincon, nur eine knappe Meile von der Stadt weg, die Lichter in den Bergen sehen könne, die über die Bäume glitzerten. Man sehe auch gelegentlich eine Frau reiten, die seitlich zu Pferde sitze, aber nicht im Tragsessel, sondern auf einer Art Sattel, und einen Männerhut trage. Sie ginge auch zu Fuß auf den Bergwegen herum. Sie schiene ein weiblicher Ingenieur zu sein.

      »Welche Torheit! Unmöglich, Senor!«

       »Si! Si! Una Americana del Norte!«

      »Nun gut! Wenn Euer Wohlgeboren unterrichtet sind!« Una Americana. Es mußte wohl etwas der Art sein.

      Und dann lachten sie wohl ein wenig, in geringschätziger Verwunderung, und hielten dabei ein wachsames Auge auf die Schatten längs der Straße, denn man muß auf üble Begegnungen gefaßt sein, wenn man spät im Campo reitet.

      Doch waren es nicht nur die Männer, die Don Pépé so gut kannte, sondern er schien auch imstande, mit einem einzigen aufmerksamen, nachdenklichen Blick jedes Weib, Mädchen oder Kind in seinem Gebiet zu erkennen. Nur die ganz Kleinen machten ihm mitunter zu schaffen. Man konnte ihn und den Padre oft beisammen sehen, wie sie in tiefem Sinnen eine Schar brauner Kinder in einer Dorfstraße überblickten und sozusagen zu sortieren versuchten; oder sie stellten gemeinsam Nachfragen nach der Verwandtschaft irgendeines kleinen, stämmigen Kobolds an, den sie antrafen, wie er nackt und ernst des Wegs kam, eine Zigarre in seinem Kindermund und vielleicht den Rosenkranz der Mutter, als Schmuck entlehnt, vom Hals bis auf den kleinen runden Bauch niederhängend. Der geistliche und der weltliche Hirte der Minenherde waren enge Freunde. Mit Dr. Monygham, dem ärztlichen Hirten, der das Amt von Frau Gould angenommen hatte und im Gebäude des Spitals lebte, waren die Beziehungen nicht so vertraute. Aber man konnte ja auch zu keiner Vertraulichkeit mit El Señor Doctor kommen, der völlig unheimlich und rätselhaft wirkte, mit seinen krummgezogenen Schultern, dem hängenden Kopf, dem spöttischen Mund und den bitteren Seitenblicken. Die beiden andren Obrigkeiten arbeiteten im besten Einvernehmen. Vater Roman, klein, flink, runzelig, mit großen, runden Augen und scharfem Kinn, ein großer Schnupfer, war auch ein alter Feldzügler. Er hatte auf den Schlachtfeldern der Republik gar manche einfältige Seele losgesprochen, war bei den Sterbenden auf den Berghängen gekniet, im hohen Gras, im Waldesdunkel, um die letzte Beichte entgegenzunehmen, Pulverrauch in der Nase, das Rattern des Gewehrfeuers, das Klatschen und Schwirren der Kugeln im Ohr. Und was sollte Böses dabei sein, wenn sie im Pfarrhaus in den frühen Abendstunden mit schmutzigen Karten miteinander ein Spielchen machten, bevor Don Pépé seine letzte Runde antrat, um sich zu überzeugen, daß die Schutzmannschaft der Mine – eine von ihm selbst eingerichtete Körperschaft – auf ihren Posten war? Für diese letzte seiner Tagespflichten gürtete Don Pépé tatsächlich seinen alten Säbel um, auf der Veranda eines weißen Holzhauses von unverkennbar amerikanischer Herkunft, das Vater Roman das Pfarrhaus nannte. Ein langgestrecktes, niedriges Gebäude daneben, mit steilem Dach, wie eine große Scheune, mit einem Holzkreuz auf dem Giebel, war die Arbeiterkapelle. Dort las Vater Roman jeden Morgen die Messe vor einem düstern Altarbild, das die Auferstehung darstellte. Die graue Fläche des Grabsteins nahm eine Ecke ein, eine aufwärts schwebende Figur, bleich und langgliedrig, in einem Strahlenkranz, die Mitte, und ein niedergeworfener, dunkler Legionär im Helm den pechschwarzen Vordergrund. »Dieses Bild, meine Kinder, muy linda e maravillosa«, pflegte Vater Roman zu einigen seiner Beichtkinder zu sagen, »das ihr hier dank der Freigebigkeit der Gattin eures Señors Administrador bewundern könnt, ist in Europa gemalt worden, einem Land der Heiligen und Wunder, viel größer als unser Costaguana.« Und darauf pflegte er salbungsvoll eine Prise zu nehmen. Als aber einmal ein Vorwitziger zu wissen wünschte, in welcher Richtung dies Europa liege, ob aufwärts oder abwärts der Küste, da wurde Vater Roman, um seine Verblüffung zu verbergen, sehr zurückhaltend und streng. »Zweifellos liegt es sehr weit weg. Aber Unwissende, wie ihr von der San Tomé-Mine, sollten lieber ernsthaft über die ewigen Strafen nachdenken, anstatt der Größe der Erde nachzuforschen, deren Länder und Völker weit über eure Begriffe gehen.«

      Mit einem »Gute Nacht, Padre!« – »Gute Nacht, Don Pépé!« ging der Gobernador davon, den Säbel unter dem Arm, den Körper vorgebeugt, mit weitausgreifendem Schritt ins Dunkel. Die Heiterkeit, wie sie zu einem unschuldigen Kartenspiel um ein paar Zigarren oder ein Bündel Yerba paßte, wich sofort der strengen, dienstlichen Haltung eines Offiziers, der sich aufmacht, um die Lagerposten abzugehen. Ein lautes Trillern der Pfeife, die ihm vom Halse hing, erweckte sofort von überallher die grelle Antwort anderer Pfiffe, mit Hundegebell untermischt, das endlich langsam am Ausgang der Schlucht erstarb; und aus dem Schweigen tauchten zwei Serenos auf, die bei der Brücke Wache hatten, und schritten lautlos dem Offizier entgegen. An der einen Seite der Straße lag ein großes Blockhaus, das Warenhaus, ganz und gar verschlossen und verrammelt. Ein andrer weißer Fachwerkbau gegenüber war das Spital; in den zwei Fenstern von Dr. Monyghams Wohnung war noch Licht. Nicht einmal das zarte Blätterwerk einer Gruppe von Pappelbäumen regte sich, so atemlos war die Dunkelheit, in die die überhitzten Felsen ihre Wärme ausstrahlten. Don Pépé stand einen Augenblick lang neben den zwei reglosen Serenos; und plötzlich begann vielleicht hoch oben auf dem steilen Hang des Berges, auf dem einzelne Fackeln glühten, wie verflogene Funken von den zwei Feuern oberhalb, die Schüttrinne zu rasseln. Das scharrende, knatternde Getöse nahm an Wucht und Schnelligkeit zu, wurde von den Wänden der Schlucht aufgenommen und als dumpfes Donnergrollen weit in die Ebene hinausgeschickt. Der Posadero in Rincon schwur, daß er in ruhigen Nächten bei aufmerksamem Hinhören das Geräusch in seinem Hausgang hören könne wie das eines Gewitters in den Bergen.

      Charles Gould selbst war der Meinung, daß das Geräusch bis an die äußersten Grenzen der Provinz dringen müsse. Wenn er nachts zur Mine ritt, dann klang es ihm am Rand eines kleinen Gehölzes gleich hinter Rincon entgegen; das böse Murren des Berges, der seine Schätze in das Stampfwerk strömen ließ, war nicht zu verkennen. Dem Mann klang es mit eigener Gewalt ins Herz, als eine donnernde Verkündigung an das ganze Land, mit der Eindringlichkeit einer vollendeten Tatsache, als Erfüllung eines kühnen Wunsches. Er hatte in seiner Einbildung eben dieses Geräusch zu hören gemeint, an jenem weit zurückliegenden Abend, als seine Frau und er, nach mühsamem Ritt durch einen Waldstreifen, ihre Pferde an einem Strom angehalten und zum erstenmal in die wuchtige Einsamkeit der Schlucht gespäht hatten. Da und dort ragte die Spitze einer Palme auf. In einer Steilschlucht nahe beim Abhang des San Tomé-Berges (der würfelig ist wie ein Blockhaus) blitzte der Faden eines kleinen Wasserfalls glashell durch das dunkle Grün der schweren Baumfarne. Don Pépé, der das Paar begleitete, ritt auf, wies mit ausgestrecktem Arm in die Schlucht und erklärte mit gemachter Feierlichkeit: »Sehen Sie hier, Señora, das wahre Schlangenparadies.«

      Und dann hatten sie die Pferde gewandt und waren nach Rincon geritten, um dort die Nacht zu verbringen. Der Alkalde – ein alter, fleischloser Moreno, ein Sergeant aus der Zeit Guzman Bentos – hatte ehrfürchtig mit seinen drei hübschen Töchtern das Haus geräumt, um der fremden Señora und Ihren Wohlgeboren den Caballeros Platz zu machen. Er bat Charles Gould nur (den er für eine geheimnisvolle amtliche Persönlichkeit zu halten schien), die höchste Regierungsstelle – El Gobierno supremo – an eine Pension zu erinnern (in Höhe von einem Dollar monatlich), zu der er sich berechtigt glaubte. Sie sei ihm versprochen worden, versicherte er und reckte kriegerisch seinen gebeugten Rücken: »Vor vielen Jahren, für meine Tapferkeit in den Kriegen mit wilden Indianern, als ich noch jung war, Señor.«

      Der Wasserfall war nicht mehr da. Die Baumfarne, die unter seinem Sprühregen gewuchert hatten, waren um den ausgetrockneten Wasserlauf herum verdorrt, und die tiefe Schlucht war nur noch ein großer Graben, halb ausgefüllt mit Rückständen und Erzabfällen. Der Bach, weiter oberhalb gedämmt, schickte sein Wasser rauschend durch die offenen Rinnen aus ausgehöhlten Baumstämmen, die, auf hohen Holzpfählen ruhend, zu den Turbinen und dem Stampfwerk auf dem niederen Plateau führten, der Mesa grande des San Tomé-Gebirges. Nur das Andenken an den Wasserfall mit seinen wilden Farnen, die wie ein hängender Garten die Felsen der Schlucht überwucherten, lebte in Frau Goulds Aquarellskizze fort; sie hatte sie eines Tages in aller Eile von einer kleinen Lichtung zwischen den Büschen aus gemacht und dabei im Schatten eines kleinen Strohdaches gesessen, das unter Don Pépés Anleitung auf drei rohen Pfählen errichtet worden war.

      Frau Gould hatte alles von Anfang an mit angesehen, die Rodung der Wildnis,


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