Die Verwandlung. Claudia Rack
wollte. Überrascht versuchte er sich aus dem Griff zu befreien und sah sie wütend an. Calliel benötigte nicht viel ihrer Kraft, um die Faust festzuhalten.
„Gib auf!“, meinte sie selbstbewusst. Er knirschte mit den Zähnen. Abrupt ließ sie ihn los, sodass er den Halt verlor und kurzerhand nach hinten umkippte. Er landete im Schnee und schnaubte verärgert. Erzürnt sah er zu ihr auf. Calliel stand über ihm. Die Hände auf ihren Hüften abgestützt, betrachtete sie ihn eingehend. Seine braunen, leicht gewellten, Haare umrahmten das Gesicht. Braune wachsame Augen ließen sie nicht los. Die schlaksige Gestalt lag im Schnee, verhüllt von einer dunklen Jeans, Stiefel und einem dunklen Parka, der ihn vor der Kälte schützen sollte. „Wie heißt du?“, fragte sie ihn. Sie reichte ihm ihre Hand, um ihn aufzuhelfen. Der Junge blieb misstrauisch und ergriff die dargebotene Hand nicht sofort. „Ich will dir nicht wehtun, Junge“, ergänzte sie milde mit einem Lächeln. Das schien ihn zu überzeugen. Calliel zog ihn blitzschnell auf die Beine, sodass er verwundert direkt vor ihr stehenblieb. Unsicher unterbrach er den Blickkontakt mit ihr und klopfte den Schnee von der Kleidung. „Und? Willst du mir nicht deinen Namen verraten?“
„Wozu? Ich kenne deinen Namen auch nicht“, meinte er stoisch. Calliel lachte auf, sodass er sie direkt ansehen musste. Erst jetzt bemerkte er, wie attraktiv sie war. Ihr Lächeln war bezaubernd. Hatte sie zwei Augenfarben? Er sah genauer hin. In der Tat, ein braunes und ein blaues Auge. Sein Blick wanderte über ihre eleganten Kurven, die in hautengen weißen Hosen und einem schwarzen Gewand steckten. Wie sie es mit einem Bustier bekleidet in der Kälte aushielt, war ihm schleierhaft.
„Ich bin Calliel“, meinte sie beschwichtigend. Er nickte und überlegte noch, ob er ihr trauen sollte. Allerdings hätte sie ihn schon dreimal überwältigen können, wenn sie das gewollt hätte. Er hatte gespürt, dass sie kräftiger war, als sie aussah.
„Du musst ein Engel sein, korrekt?“, fragte er direkt. Verdutzt sah sie ihn an.
„Woher weißt du von Engeln?“
„Ich habe geraten. So wie du aussiehst und anhand deiner Kraft, wundert es mich nicht, wenn du einer von ihnen bist“, meinte er ein wenig verärgert.
„Wie sehe ich denn aus?“
„Tja du bist ..., ich meine ..., ihr seid alle imposant, kräftig und attraktiv“, versuchte er zu erklären. Calliel lachte erneut.
„Du dürftest mich nicht wahrnehmen, Junge. Es sei denn, du bist schon einmal mit einem Engel in Kontakt geraten“, sinnierte sie. Er mied ihren forschenden Blick und ging nicht auf diese Anspielung ein. Ihre Neugier war geweckt.
„Ich bin Nicholas, falls es dich noch interessiert“, meinte er. Calliel erschrak, sobald er seinen Namen nannte. Sie betrachtete ihn von oben bis unten, mit nachdenklichem Blick und eindeutig zu intensiv, für seinen Geschmack. Leichte Röte überzog seine Wangen bei ihrer Musterung. Der Junge, der sich tapfer gegen sie gestellt hatte, obwohl er keine Chance gegen sie hatte, war niemand anderer, als der berüchtigte Nicholas. Der beste Freund der Auserwählten. Jetzt war ihr klar, weshalb er sie sehen konnte. Sie kannte die Geschichte von Nicholas und Ramael. Der abtrünnige Engel hatte ihn unter seine Kontrolle gebracht und für seine Zwecke missbraucht.
„Du gehörst zur Auserwählten“, rutsche es Calliel heraus. Sein Misstrauen war sofort zurück, sobald sie die Auserwählte erwähnte. Beschwichtigend hob sie ihre Hände, sobald er sich erneut auf sie stürzen wollte. „Warte, ich bin auf eurer Seite“, sagte Calliel. Nicholas warf ihr einen skeptischen Blick entgegen, die Faust auf Augenhöhe haltend. Anscheinend begriff er nicht, dass er ihr nichts anhaben konnte. Sie war ein Engel.
„Das hat mir ein Engel schon einmal gesagt“, blaffte er sie an. Calliel schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.
„Ramael war ein hinterhältiger Engel. Er hat eigennützig gehandelt und wäre bestraft worden, wenn der Gefallene ihn nicht schon getötet hätte. Ich gehöre zu den guten Engeln. Ich will helfen, Nicholas.“ Ihre einschmeichelnde Stimme lud Nicholas ein, ihr zu vertrauen.
„Wieso bist du dann hier und beobachtest Jazar? Wieso hilfst du nicht, indem du sein Gedächtnis zurückholst?“
„Das kann ich nicht. Es gibt vereinzelt Engel, die diese Fähigkeit haben, aber ich nicht. Ich bin nicht hinter Jazar her.“ Nicholas stutzte und sah sie fragend an. „Ich bin wegen Ophelia hier.“ Nicholas hörte den Namen aus ihrem Mund und konnte kein Wort herausbringen. Die Erinnerungen fraßen sich in seinen Kopf. Ramael, wie er ihn geheilt hatte. Ramael, wie er hinter ihm stand und ihn bedrohte. Ramael, wie er die Dolchspitze an die Kehle gehalten hatte. Panisch schüttelte er den Kopf und versuchte die Bilder loszuwerden, die auf ihn einstürzten. Er wusste, wer Ophelia war. Sie war die Verlobte von Ramael. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn sie bei Jazar. „Geht es dir nicht gut, Nicholas?“, hörte er sie fragen. Vorsichtig kam sie auf ihn zu und wollte ihn am Oberarm berühren. Blitzschnell sprang er zurück und sah sie warnend an.
„Rühr mich nicht an, Engel!“, brüllte er. Calliel zuckte zusammen und nahm ihre Hand herunter. Der Ausbruch erschrak sie. „Ist Ophelia hier?“, fragte er alarmierend. Calliel dachte kurz darüber nach, ob sie ihm darauf antworten sollte. Er schien nicht in bester Verfassung zu sein. Hatte er mit Ophelia Kontakt gehabt?
„Das ist sie. Ich habe sie beobachtet, wie sie zu Jazar Kontakt aufgenommen hat“, sagte Calliel. Nicholas fluchte.
„Das darf nicht wahr sein! Wieso haltet ihr sie nicht auf? Ich verstehe euch nicht. Ihr wollt angeblich das Beste, doch wenn Gefahr droht, schaut ihr seelenruhig zu, anstatt irgendetwas zu unternehmen“, ereiferte er sich wütend. Calliel verstand ihn gut. Sie konnte ihm darauf nicht die Antwort geben, die er jetzt hören wollte. Das war nicht für seine Ohren bestimmt. Er war ein Mensch. Ein gewöhnlicher Mensch, der zufällig in Kontakt mit Engeln geraten war, mehr nicht. Außerdem stand es ihr nicht zu, ihm das zu sagen. Rafael würde das nicht gutheißen. Ihr Auftrag lautete, Ophelia finden und zu ihm bringen. Dass die Verlobte von Ramael bei Jazar aufzufinden war, war auch für sie überraschend.
„Ich bin hier um Ophelia gefangen zu nehmen. Ich wusste bis jetzt nicht, dass ich auf Jazar treffen würde, sobald ich sie aufspürte.“ Nicholas sah sie prüfend an, nachdem sie ihm das sagte. Calliel wusste, dass er abwägte, ob sie ihn anlog. Armer Nicholas. Sein Misstrauen gegenüber Engel konnte er nicht verbergen. Sie konnte es ihm nicht verübeln, nach allem, was er durchgemacht hatte. Sie hoffte, dass er ihr glauben würde. Aus einem ihr unerfindlichen Grund war Nicholas ihr sympathisch. Soweit man das für einen gewöhnlichen Menschen sagen konnte. Menschen, die mit Überzeugung für eine Sache kämpften, waren Calliel schon immer wohl gesonnen. Schwierig ist es, wenn ein Mensch in die Gefilde der Engel hinein manövriert wurde, ob freiwillig oder nicht. Es gab Regeln. Es gab Dinge, die ein Mensch nicht verstehen würde. Und Dinge, die ein Mensch niemals über die Engel erfahren durfte, egal wie sympathisch sie waren oder nicht. Calliel räusperte sich kurz. „Und was tust du hier? Was dachtest du, dass du tun könntest, hm?“ Ihre Frage war berechtigt, musste Nicholas zugeben. Ariana wusste nicht, dass er bei Jazar war. Er betrachtete Calliel argwöhnisch, bevor er entschied, es ihr zu sagen.
„Ich versuche, Jazar zu beschützen.“ Calliel stutzte. Das war selbst für ihn überraschend. Kein Wunder, dass der Engel vor ihm genauso verwundert war. „Ich weiß, dass ich nicht in der Lage bin, ihm zu helfen, sollte er angegriffen werden. Ich bin ihm etwas schuldig. Er weiß nicht, wer er ist oder woher er stammt, nicht wahr? Er ist schutzlos, eine direkte Zielscheibe“, versuchte er zu erklären. Er konnte sie nicht ansehen und starrte auf die Hütte, in der Jazar zurzeit lebte. Calliel wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Dieser Mensch vor ihr war entweder mutig oder naiv. Es würde noch eine Weile brauchen, bis sie Nicholas verstand, wusste sie. Calliel beschloss in diesem Moment, dass sie die Herausforderung annehmen würde. Sie wollte diesen Menschen kennenlernen und ihn verstehen. Ab sofort würde sie auf Nicholas ein Auge haben. Er wusste es zwar noch nicht, aber das war Calliel herzlichst egal.
4. Kapitel
Er beeilte sich und geriet ständig ins Stolpern. Er hatte schon viel zu lange gebraucht. Der Boss wartete ungeduldig