Der Erbe ...und die Glücksritter. Sybille A. Schmadalla
mit WC und Dusche Platz fand und eine kleine Küchenzeile unterhalb der Fenster entlang lief. Es war eine Ein-Zimmer Wohnung mit Holzofen und einem sagenhaften Panoramablick in den Garten mit Birken, Trauerweiden und einem kleinen Teich.Matthias erwähnte auch, dass es im hinteren Teil das alte Kutschenhaus gab, bewohnt von einem Finanzbeamten aus Ebersberg, der am Wochenende immer heimfuhr nach Zwiesel und der gerade im Urlaub sei. Herr Hölzl. Matthias fragte Hans, was der denn mit dem Haus vorhabe, ob er denn weiter hier wohnen können würde. Hans sagte wahrheitsgemäß, dass er sich erst einmal einen Überblick verschaffen müsse und im Moment noch gar nicht wisse, was er tun würde. Bis auf Weiteres könne er natürlich hier wohnen. Matthias druckste etwas herum, er erwähnte, dass er morgen eine Klausur schreibe und lernen müsse und er wolle ihn ja nicht hinauswerfen, aber er müsse jetzt lernen. Hans bedankte sich bei dem sympathischen jungen Mann und wünschte ihm viel Glück für die morgige Klausur, schüttelte ihm die Hand und ging zurück ins Haus. Es war spät geworden, die Kirchenglocken riefen zur Abendmesse. Er beschloss im Haus zu übernachten. Er musste ein paar Lebensmittel einkaufen im Stadtzentrum oder einer Tankstelle. Es war ein lauer Abend. Er rief Erika Prohaska kurz an, fragte nach, wie es denn im Geschäft lief und schilderte die Fahrt. Vom Bild oder Haus sagte er keinen Ton. Im Auto sah er die Blumen liegen, die schon matt die Köpfe hängen ließen. Friedhof! Das hatte er ganz vergessen. Amadeus Glück würde ihm nicht davon laufen, andererseits war der Friedhof mitten im Ort. Grafing war eine kleine Stadt, die Kirche mit Zwiebelturm und Friedhof keine fünf Fahrminuten entfernt, also wendete er den Wagen. Der Himmel zeigte jetzt das tiefe, abendliche Blau der aufkommenden Dämmerstunde, rosafarbene Schleier wiesen darauf hin, wo die Sonne gerade untergegangen war, abendliche Kühle und Stille lag über dem Friedhof, als er ihn betrat. Amadeus Glücks Grab fand er an der Außenmauer. Der Erdhügel war eingesunken, verwelkte Blumen ließen in brauner, zerbrechlicher Trockenheit ihre Köpfe hängen. Ein schlichtes Holzkreuz und ein weißer Zettel unter Folie. Amadeus Glück geb. 15.11.1915 gest. 5.3.2015. Hans stand davor und legte nun sein kleines Bukett auf den Grabhügel, das neben dem welken Braun der Anderen in neuer Frische erstrahlte. Er dachte: „Na, Hundert wärst du wohl gerne geworden“ Als Kind hatte er im Religionsunterricht das „Vater unser“ gelernt, mühsam stoppelte er sich den Text zusammen, aber er war unkonzentriert und musste wieder von vorne anfangen.Wer warst du? Warum hatten Mutti oder Oma nie was von dir erzählt? Was hatte es mit dem Kunstwerk auf sich und den Ordnern? Er wanderte über diesen Friedhof. Viele alte Gräber, Grabplatten mit geschnörkelten Inschriften, schmiedeeiserne Kreuze, schwarzer Granit, segnende Marmorengel, frische Holzkreuze. Ein leises Knirschen vom Kies begleitete jeden seiner Schritte auf zurückweichendem Grund, während er die Wege zwischen den Gräbern abschritt. Er wusste selber nicht, was er da suchte. Las die Namen Wildgruber, Grandauer, Moser, Leitner, Gruber, Kreitmair, Fritzmayer, Huber, Haberer oder Mair. Las Inschriften der Gedenktafel der Gefallenen der beiden Weltkriege und Jahreszahlen auf den Gräbern 1889, 1965, 2001 oder 1977. Er schritt zwischen den Gräbern umher, sah liebevoll gepflegte Grabstätten mit Blumenampeln, ewigem Licht, einem Weihwasserbecken, registrierte schlichte Gräber mit einer Steinplatte aus Granit und einer kleinen Pflanzschale, rote Kerzen und kleine Windlichter, und während er so umherging, ahnte er was er suchte: Das Grab von Cara Sophia. Schließlich fand er das Familiengrab einer Familie Höller im hinteren Teil des Friedhofs, direkt an der Mauer. Ein kleines Mausoleum, eine Familiengruft, die große aus tiefschwarzem Granit, senkrecht aufragende Platte mit den Namensinschriften, flankiert von zwei gewundenen Steinsäulen, auf denen kleine Engel knieten und um die in Stein gemeißelter Efeu rankte. Die Schrift auf der Gedenktafel mit Blattgold ausgelegt, eine alte, verschnörkelte Schrift. Die Gruft hatte eine Granitumrandung und darauf zwei Platten, die jeweils von einem erhabenen Steinkreuz geziert waren. Obenauf eine steinerne Pflanzschale, die mit verschieden hohen immergrünen Gewächsen bepflanzt war. In der darunter befindlichen Gruft lagen die sterblichen Überreste der Familie Höller. Die Inschriften leuchteten verhalten golden vom schwarzen Untergrund. Sein Blick sprang unstet umher, dann fand er, was er gesucht hatte: „Cara Sophia Höller 23.10.1890 gest. 13.7.1909.“ Es traf ihn trotzdem völlig unvorbereitet. Drei Jahre nach Entstehung des Gemäldes war sie gestorben! Mit neunzehn Jahren? Wie war sie gestorben? Unfall? Krankheit? War sie gar ermordet worden? Er war heute so froh gewesen, dass er einer alten Cara Sophia nicht begegnen musste, aber ihr früher Tod erschütterte ihn, berührte ihn seltsamerweise. Er kannte sie doch gar nicht – und doch sah er sofort diesen koketten und zugleich scheuen Blick aus grau-grünen Augen vor seinem geistigen Auge. Ihn fröstelte. Was sich hinter solch dürren Zahlen an Schicksalen verbarg! In Ruhe las er jetzt die ganze Inschrift. Hier ruhen im Namen des Herren Herr Jakob Höller 21.1.1863 bis 24.3.1939 Großbauer und seiner geliebte Ehefrau Katharina Höller geb. Grundler 19.6.1866 bis 3.5.1948. Darunter standen weitere Namen Georg Höller geb. 30.3.1885 gest. 15.5.1945, es folgten noch drei Geschwister, alle in den sechziger Jahren verstorben. Die Mutter Katarina Höller, die den Mann und zwei ihrer Kinder beerdigen musste. Er seufzte tief und verließ den Friedhof. In Gedanken war er beschäftigt mit Cara Sophias Schicksal. Jetzt meldete sich der Magen, aber die Läden waren schon geschossen, also kaufte er an der Tankstelle zwei verpackte Sandwiches, ein Bier und Schokoriegel, hungrig schlang er alles direkt in der Tankstelle herunter. Zu Hause richtete er sich einen Schlafplatz auf der alten Couch im Wohnzimmer, denn im Bett des Erblassers wollte er nicht schlafen, das konnte er nicht. Die ganze Nacht träumte er von dem Bild. Er schlief schlecht. Cara Sophia, wer warst du? Kann ich nach hundert Jahren etwas über dich erfahren? Wie bist du gestorben? Wieso hing dieses phantastische Bild nicht im Wohnzimmer? Wie kam Amadeus Glück an dieses Kunstwerk? Wie wertvoll war es? Wen konnte er fragen? Wer war Leo Putz?Im Morgengrauen fiel er in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen, ehe er in die Stadt zum Frühstücken ging, stieg er die Treppe hoch, enthüllte das Gemälde, schaute lange in diese graugrünen Augen und packte es wieder ein. In einem kleinen Café am Stadtplatz ging er ordentlich Frühstücken. Es gab Butterbrezeln und Weißwürste, nur das dazugehörige Weißbier lehnte er ab. Er trank lieber Kaffee. Als er gut gestärkt zurückkam, fütterte er zuerst die Hühner, die ihn hungrig und ungeduldig gackernd am Gartentor empfingen. Die hatte er gestern total vergessen. Bei der Fütterung am Abend liefen die Hühner von selbst in den kleinen Stall. Beide waren hochbetagt und legten keine Eier mehr, aber niemand hatte es übers Herz gebracht, sie zu schlachten. Hühner in Rente sozusagen. Danach holte er sein Tablet, sein Handy und den Laptop aus dem Wagen, ging ins Büro, rückte Block und Rechenmaschine beiseite und legte den Laptop in die Mitte. Über sein Handy stellte er die Verbindung zum Internet her. Er checkte die Emails, nichts Besonderes. „Leo Putz Maler“ tippte er in die Suchleiste von Google, und im Nu stand eine gewaltige Auswahl zur Verfügung. Er las in Wikipedia: „Leo Putz, geboren 18.Juni 1869 in Meran, Südtirol; gestorben 21. Juli 1940 in Meran, Südtirol. Er war ein Tiroler Künstler. Das künstlerische Werk von Leo Putz umfasst den Jugendstil, den Impressionismus und die Anfänge des Expressionismus. Schwerpunkt seines Werkes sind Figuren-, Akt-, und Landschaftsbilder. Ab 1889 hatte er an der München Akademie der bildenden Künste studiert, später an der Académie Julien in Paris. In München hatte er den Spitznamen „Der Italiener“. Er las unter anderem, Schwerpunkt des frühen Werks von Leo Putz war „das Bild der schönen Frau“, das er sehr variationsreich behandelte … Hans nickte zustimmend.Einem plötzlichen Impuls folgend holte er das Bild und stellte es im Büro vor eines der Regale auf. Sie sah ihn an. Die schöne Frau sah ihn an. Plötzlich fiel ihm auf, dass in der Ordnerreihe hinter dem Gemälde etwas nicht stimmte: Es gab nur einen einzigen Ordner, auf dem „bis April 1943“ stand, das Jahr 1944 fehlte ganz, und gefolgt von ebenfalls nur einem Ordner „Ab Juni 1945“. 1946 hatte dafür sechs Ordner, einer beschriftet mit „Rückübertragung“. Er kippte den Rahmen nach vorne und zog diesen Ordner raus. Er enthielt zahllose Papiere, alle damit befasst, das Vermögen, das einem Bartholomäus Grandauer enteignet und von einem Georg Höller übernommen worden war. - Ein Nazi? schoss es Hans durch den Kopf, und gleich darauf die Frage, ob der etwa ein Bruder von Cara-Sophia war? Grandauer hatte es offenbar seinerseits einem Amadeus Glück abgenommen, einem Juden, der von Juni 1943 bis zur Befreiung durch die Amerikaner am 28. April 1945 im KZ-Außenkommando Kreis Ebersberg-Steinhöring gefangen gehalten worden war. Hans fand ein Dokument darüber, dass es sich um handwerkliche Arbeiten für den Lebensborn handelte und dass 27 männliche Häftlinge befreit wurden. Schockiert las er, dass allein das KZ Dachau 169 Außenlager für Männer und 24 Außenlager für Frauen in ganz Deutschland unterhalten hatte. Alle KZs hatten solche Außenlager über Deutschland verteilt.