25XX: Eine SciFi-Saga (Neve Edition). Marc Pain
anderen Menschen hatte – war bislang kein Problem für Pan gewesen. Er hatte sich weder allein e unwohl gefühlt, noch bereiteten ihm die Anwesenheit von Menschen, egal, ob es eine kleine Gruppe oder größere Massen waren, Unbehagen. Pans begrenzte Gedanken hatten seine Emotionen stark eingeschränkt. Mit den neuen Gefühlen hatte er schwerer zu kämpfen, als mit der Gedankenvielfalt.
»Wohin gehen wir?«
»Wir sind gleich da«, antworte der Mann mit der seltsamen Kappe und lief zielsicher durch das Gewirr der Häuserschluchten. Berge aus Müll und Schrott türmten sich vor ihnen auf und immer häufiger mussten sie über eine gewaltige Ansammlung von Unrat steigen, sich durch kleine Spalten quetschen oder durch enge Rohre kriechen. Der Fremde wusste genau, wie sie zu gehen hatten, um den kürzesten Weg durch den Abfalldschungel zu nehmen. Pan versuchte zu erkennen, was die Trümmer einmal gewesen sein konnten. Häufig trafen sie auf scharfkantiges Metall – Bruchstücke, die aus dem meterhohen Kleinschrott hervorragten oder ihn unter sich begruben. Pan konnte auf einigen davon Teile einer Kennzeichnung sehen, wie er sie von den Sektorschiffen kannte. Erschrocken fuhr er erst zusammen und blieb danach wie erstarrt stehen. Von einer Erkenntnis getroffen blicke er himmelwärts. Oben, am Ende des Tunnels, der sich aus den steilen Hauswänden ergab, flogen die Autos, Fähren und anderen Personentransporter über ihren Köpfen hinweg.
»Warum bleibst du stehen? Wir müssen weiter!«, drängte der Mann.
»Wir werden erschlagen, wenn wir nicht sofort von hier verschwinden!«
»Dann müssten wir schon ziemliches Pech haben«, sagte der Mann gelassen. »Ich kenne zumindest niemanden, der schon Mal von heruntergefallenem Schrott erschlagen wurde.«
»Aber hier ist so viel …«, sagte Pan und sah sich in alle Richtungen um.
»Und das meiste davon liegt hier auch schon eine verdammt lange Zeit. Komm jetzt!«
Um mehr Gefühl für Zeit zu bekommen, versuchte er sich zuerst begreiflich zu machen, wie lange er auf dem Jupitermond Europa gearbeitet hatte. Sein Leben lang. Aber was bedeutete das? Wie lang lebte er denn schon? Eine Antwort darauf hatte er nicht. Ein Jahr hatte 365 Tage, das wusste er. Er wusste auch, dass zu jedem Ende eines Jahres, der Druck auf der Arbeit anstieg, und dass er viele dieser Jahre auf Europa verbracht hatte. Doch wie viele es an der Zahl waren, konnte er nicht sagen. Es war gar so, als habe sich jedes Jahr etwas in ihm wieder auf null zurückgestellt und einfach wieder von vorn begonnen.
»Wir müssen dort runter«, sagte der Mann und deutete auf ein kreisrundes Loch im Boden, »bis hierhin verirren sich nur die wenigsten, dort unten trifft man auf niemanden, der nicht zu uns gehört. Das ist der Zugang zur alten Kanalisation. Dieser Ort wurde vom System vergessen. Und genau darauf hoffen wir ebenfalls, vom System vergessen zu werden.« Der Fremde zwinkerte Pan zu, was dieser nicht verstand, betrat die erste Sprosse einer rostigen Leiter und stieg langsam hinab. Als er bis zur Brust im Loch verschwunden war, schaute er Pan ins Gesicht. »Hab´ keine Angst. Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich deine Angst und Verwirrung sehr gut nachempfinden kann. Folge mir, wenn du Erklärungen für all das haben willst, was du gerade durchmachst.« Mit diesen Worten verschwand er auf der Leiter.
Langsam trat Pan an das Loch heran und blickte argwöhnisch in die Tiefe. Es war stockfinster und der Fremde wurde schon bald von der Dunkelheit verschlungen. Es fiel ihm schwer, Vertrauen zu fassen.
Du kennst ihn nicht, begannen seine Gedanken ihn zu warnen, er könnte dich in eine Falle locken! Kennst du seinen Namen, oder weißt sonst irgendetwas über ihn?
Aber er ist freundlich und könnte mir einen Ausweg zeigen. Ich hab noch nie so einen sonderbaren Menschen kennengelernt – er ist irgendwie anders. Außerdem kann er mir das alles erklären.
Er zögerte lange und schaute die Sprossen hinab.
Ob ich diese Leiter jemals wieder hinaufklettern werde?, fragte er sich und schluckte schwer.
»Na los, jetzt komm schon!«, rief der Mann. Die Stimme des Fremden war leise und hallte lange wieder. Dadurch konnte Pan gut abschätzen, wie tief es vor seinen Füßen hinabging. Abermals schluckte er und atmete tief ein.
Du kannst dich nicht länger allein durchschlagen. Entweder du vertraust dem Fremden oder du drehst um und lässt dich von der Polizei schnappen.
Er nahm all seinen Mut zusammen und betrat die Leiter. Während er die Sprossen hinabstieg und allmählich in der Finsternis versank, bereute er seine Entscheidung bereits wieder. Er hatte jedoch keine andere Wahl – er musste dem Fremden einfach vertrauen und wollte mehr über das System erfahren, von dem er gesprochen hatte. Wenn es etwas gab, das größer war als sein Fluchtinstinkt, dann war es die Neugier.
Die Luft wurde immer kälter und Pan schaute die Leiter hinauf. Obwohl er das Ende noch nicht erreicht hatte, war der Ausstieg inzwischen so weit entfernt, dass er das Licht mit seiner Hand des ausgestreckten Armes abdecken konnte. Es roch seltsam und die Luft war feucht.
Endlich hatte er den Boden erreicht und trat sogleich in eine Pfütze. Die Atmosphäre der nasskalten Umgebung legte sich wie eine Decke um seinen Körper.
»Entschuldigung«, sagte der Mann mit der seltsamen Kappe und schaltete eine Taschenlampe ein. »Ich hätte dir ja auch leuchten können.«
»Was ist das für ein Ort?«
»Das ist die alte Kanalisation – auch die Katakomben genannt«, wiederholte der Fremde. »Wir müssen hier entlang, folge mir.«
Auf beiden Seiten eines breiten Kanals führten dünne Wege an den gemauerten Wänden entlang. Manchmal führte eine schmale Brücke von der einen Seite des Tunnels auf die andere. Ein Geländer war nur stellenweise vorhanden und sonderlich vertrauenserweckend war es nicht. Das Wasser im Kanal stand still und sonderte einen furchtbaren Gestank ab. Pan konnte sich nicht ausmalen, warum man freiwillig diesen Ort hätte besuchen sollen. Es war dunkel, kalt und nass – es stank und das Atmen fiel schwer, weil die stickige Luft sich schwer auf die Lungen legte.
»Was ist eine Kanalisation?«
»Hier wurden früher die Abwässer der Häuser aufgefangen und zum Klärwerk weitergeleitet. Heute läuft das ja ein wenig anders ab«, erklärte der Mann.
Jetzt konnte er sich zwar den Gestank erklären, war von diesem Ort jedoch noch weniger angetan. Pan war angewidert und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum sich jemand aus freien Stücken dazu entscheiden sollte, hier hinunterzusteigen. Und doch war er, ganz freiwillig, diese Leiter hinuntergeklettert und befand sich an diesem ekelerregenden Ort.
»Warum sind wir hier unten?«
»Wir verstecken uns vor dem System«, antwortete der Fremde.
»Wieso? Was ist das System?«
»Das System ist einfach alles. Es besteht aus unheimlich vielen Teilchen. Bis vor Kurzem warst du selbst noch ein Teil von ihm«, sagte der Mann und blieb stehen. »Dies ist wahrlich kein schöner Ort, aber gerade deshalb ist er so sicher. Die alte Kanalisation gehört nicht mehr zum System und alles, was nicht zum System gehört, kann auch nicht von ihm erfasst werden. Außerdem haben wir in all der Zeit, die wir uns hier unten versteckt halten, große Teile der alten Welt einnehmen können.« Der Fremde schaute Pan an, während er sprach, und ließ den Schein seiner Taschenlampe auf den feuchten Boden fallen.
»Ich versteh das nicht. Von was für einer alten Welt sprechen Sie da eigentlich?«
»Du wirst es bald verstehen, glaub mir. Wie heißt du eigentlich?«, fragte ihn der Mann.
»Pan.«
»Ich heiße Nelson, und du kannst gern du zu mir sagen. Glaube mir, Pan, am Anfang ist das alles sehr verwirrend, aber du wirst es bald verstehen. Und dann verstehst du auch, warum wir uns hier unten verstecken müssen.«
Nelson leuchtete wieder den engen Gang entlang und gab Pan zu verstehen, dass sie nun weiter gehen sollten.
Die Kanalisation war ähnlich verzweigt und unübersichtlich aufgebaut, wie die darüberliegenden Häuserschluchten.