Unvergängliches Blut - Sammelband. S.C. Keidner
pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wie hast du dich versorgt? Hattest du Proviant?«
»Vor meiner Flucht hatte ich einen Vorrat angelegt. Als der zur Neige ging, habe ich geangelt und mich von Beeren ernährt. Venor hat mir noch Räucherfleisch gegeben.« Sie lächelte wehmütig. Die Begegnung mit dem Fallensteller schien weit zurückzuliegen, dabei waren es nur wenige Tage. »Und ich habe ihm Kräuter für einen Tee gezeigt, der ihm schmeckte.«
Khatuna warf ihrem Sohn einen Blick zu. Der zuckte mit den Achseln. »Wenn du möchtest, dann kannst du dich uns anschließen. Wir sind auf dem Weg zurück zu unserer Siedlung. Du könntest mit den Ältesten sprechen und sie fragen, ob du bei uns bleiben kannst. Die Entscheidung darüber liegt natürlich bei ihnen. Aber ich möchte dich in deinem Zustand ungern hier zurücklassen.«
Ungläubig starrte Rodica die Fährtensucherin an. Sie konnte vielleicht in der wandernden Siedlung bleiben? »Das … das würdet ihr wirklich tun?«
»Du scheinst eine vernünftige junge Frau zu sein, die mit dem harten Leben im Niemandsland zurechtkommen wird, da bin ich mir sicher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du für die Siedlung eine Belastung sein wirst.«
Sie war – fast – gerettet! Doch Rodica schluckte, denn ihr schlechtes Gewissen meldete sich zurück. Sie hatte Khatuna und Olwenus angelogen. Aber sie rief sich zur Ordnung. Ja, falls man ihr gestattete zu bleiben, dann würde sie in der Siedlung kräftig mit anpacken und ihr Kind später auch. Man sah Ewigen nicht an, dass sie von Vampiren abstammten. Ihr Kind wäre ein Kind wie jedes andere. Sie hätte alle Zeit der Welt, sich etwas anderes zu überlegen, wenn es erst geboren war. »Ich komme gerne mit«, sagte sie leise. »Und danke euch aus ganzem Herzen.«
Der Marsch zur wandernden Siedlung dauerte vier Tage. Das Land war nur leicht hügelig und so konnte Rodica trotz ihrer Schwerfälligkeit gut mithalten, denn die Fährtensucher legten ein strammes Tempo vor. Noch an demselben Abend gingen sie den Pfad, den Rodica den Fluss hinuntergekommen war, hoch und verbrachten die Nacht auf einer versteckten Lichtung zwischen Haselbäumen. Am nächsten Tag kamen sie an dem Hügel vorbei, auf dem die Ruinen des Hauses der Ewigen lagen. Rodica erwähnte, dass sie dort übernachtet hatte.
Olwenus verzog das Gesicht und spuckte auf die Erde. »Bastarde von Blutsaugern! Den Göttern sei Dank sind sie nicht mehr da!«
»Blödsinn!«, fuhr Khatuna ihren Sohn an. »Die Ewigen haben den Menschen immer gegen die Vampire beigestanden!«
»Ich habe gehört, dass sie die Menschen an die Vampire verraten!«
»Das ist Unsinn. Vampire jagen Ewige genauso, wie sie Menschen jagen.«
Olwenus knurrte noch etwas, wagte es aber nicht, seiner Mutter zu widersprechen. Rodica, die die Auseinandersetzung schweigend verfolgt hatte, fühlte sich bestätigt, dass sie über den Vater ihres Kindes gelogen hatte. Es gab Menschen, die die Ewigen hassten. Einen fürchterlichen Moment stellte sie sich vor, dass ihr Kind irgendein Kennzeichen haben würde, das es als Ewigen brandmarkte. Doch nein, beruhigte sie sich, die Ewigen sahen wie Menschen aus, nur ihr Blut war giftig für Vampire. Ihr Kind würde in der Siedlung nicht auffallen.
Kurze Zeit später verließen sie den Pfad am Fluss. Zu ihrer Linken wurde der bisher lichte Wald zu einem undurchdringlichen Dickicht aus hohen Bäumen, die dicht mit Lianen und Moosen bewachsen waren. Zu ihrer Rechten lagen die Grasländer, die aussahen wie in Rodicas frühesten Erinnerungen, der Wanderung mit ihren Eltern, kurz bevor sie starben: Ebenen mit hohen Gräsern, über die der Wind fegte.
Nachdem sie den Rändern der Urwälder weitere drei Tage gefolgt waren, bogen sie eines Nachmittags in den Wald ab. Ein kaum sichtbarer Pfad schlängelte sich durch das Dickicht und öffnete sich unvermittelt auf eine weitläufige Lichtung, auf der rings um einen kleinen Weiher eine Vielzahl von runden Hütten errichtet worden war. Sie bestanden aus geflochtenen Schilfmatten. Die Eingänge waren mit Fellen verhangen und vor einigen Hütten hatte man Beete angelegt. Am anderen Ende der Lichtung gab es einen Zaun, hinter dem Pferde, Ziegen und Schafe weideten.
Rodica blieb stehen. Sie hatte lange nicht mehr so viele Menschen gesehen. Ein paar Alte, die die Köpfe vor einer der Hütten zusammensteckten. Spielende Kinder. Männer und Frauen, die von einem Feld zu kommen schienen, Hacken und Spaten geschultert.
»Das ist Rodica«, unterbrach Khatunas Stimme ihre Beobachtungen.
Die Bewohner der Siedlung versammelten sich um sie. Ein kleiner Junge versteckte sich hinter den Röcken seiner Mutter und starrte sie aus großen runden Augen an.
»Willkommen, Rodica.« Das war einer der Alten, die miteinander gesprochen hatten. Sein Haar und der Bart waren grau und das faltige Gesicht von der Sonne braun gebrannt. »Ich bin Aldo, der Dorfälteste.«
»Danke für das Willkommen, Aldo«, sagte Rodica scheu. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte, schien man sie doch aus jeder Richtung neugierig zu betrachten.
»Ich habe Rodica angeboten, dass sie bei uns um Aufnahme bitten kann«, fuhr Khatuna fort. »Sie wollte zu dem Weiler beim Haus der Ewigen, zu ihren Verwandten, aber da ist ja niemand mehr. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte.«
Aldo musterte sie. »Wusstest du nicht, dass es den Weiler nicht mehr gibt?«, fragte er.
Rodica schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Komm.« Er wies auf eine der Hütten. »Lass uns reden. Khatuna, gibt es etwas, was wir noch heute besprechen müssen oder reicht morgen?«
»Morgen reicht vollkommen. Wir sind nicht in unmittelbarer Gefahr.« Khatuna grinste. »Ich würde sowieso gern erst einmal etwas essen. Und Olwenus will nach seinem Kleinen sehen.«
»Gut. Dann sprechen wir morgen. Komm, Rodica.«
Aldos Hütte war spärlich eingerichtet. In der Mitte des runden Raums lag eine Feuerstelle, neben der der Älteste Kessel, einen Bratrost und Geschirr gestapelt hatte. Eine grob gezimmerte Kiste enthielt Vorräte, Gemüse aus dem Beet vor der Tür, Brot und Kräuterbündel. Es gab einen niedrigen Tisch, einige Schemel und eine Schlafstätte. Auf dem Tisch lag ein Pergament, eine Karte ähnlich denen, die Maksim in seinem Raum aufbewahrte. An den Wänden aus Schilfgeflecht hingen Kleidung und unter dem Dach Räucherfleisch.
Aldo bat sie, sich an den Tisch zu setzen, und schob die Karte zur Seite. Während er einen Krug mit Dickmilch, Brot, Räucherfleisch, Teller, Becher und Messer vor sie stellte, erzählte er, dass die Siedler sich stets versteckte Lichtungen wie diese aussuchten, um ihre Hütten zu errichten. Wenn sie solche Waldwiesen auf ihren Erkundungen fanden, merkten sich die Fährtensucher sie und Aldo trug sie in seine Karten ein. So konnte man, wenn man gezwungen war, die Siedlung zu verlegen, sofort einen neuen Siedlungsort bestimmen. »In den letzten fünf Wintern mussten wir erst einmal vor Vampiren fliehen«, sagte er stolz. »Unsere Verstecke sind also gut.«
Dann setzte er sich und bat sie, zu essen. Er selbst schenkte sich nur Dickmilch ein und schien zufrieden, sie bei ihrer Mahlzeit zu beobachten.
»Also«, sagte er, als sie das Brot und das Fleisch verschlungen hatte, »wo kommst du her, Rodica?«
»Aus den Bergen.«
»Du warst eine Sklavin?«
Sie nickte. »Ja.«
Er sah sie lange an, bevor er fortfuhr. »Was ist mit dem Vater deines Kindes? Wieso ist er nicht bei dir? Hat er dich verlassen?« Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, was er von Männern hielt, die sich aus dem Staub machten, nachdem sie Frauen geschwängert hatten.
Sie wollte ihm die Lüge von dem Soldaten aus Insan erzählen, sie wollte es wirklich. Aber sein freundliches Gesicht und die Weisheit in seinen Zügen ließen sie innehalten. Sie spürte den Kloß in ihrem Hals und die Tränen, die wieder flossen, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte.
»Nein«, schluchzte sie. Maksim hätte sie nie verlassen! Er hätte ihr beigestanden! »Ich … ich ‒.« Sie konnte nicht weitersprechen.
»Du hast ihn verlassen«, sagte der Älteste leise.
Sie