Unvergängliches Blut - Sammelband. S.C. Keidner
sprang von dem letzten Felsblock hinab auf den Weg, da hörte sie hinter sich einen Mann sagen: »Heute Nacht schaffen wir es bis zur Yarasa-Höhle. Dann noch sieben oder acht Tagesritte bis ins Niemandsland. Sattelt die Pferde, wir ‒.« Die Stimme verklang.
Rodica wirbelte herum. Ihr stockte der Atem. Sie war vor einer Höhle, einem düsteren Loch im Felsen, auf den Weg abgestiegen! Am Höhlenausgang, geschützt vor den Strahlen der Abendsonne, standen fünf Vampire, die sie genauso verdutzt anstarrten wie Rodica sie. Ihre Kleidung, aus Leder und Fellen, war verschmutzt, die Haare hingen ihnen lang in die Augen. Keine Krieger, sondern Wegelagerer. Oder Sklavenjäger.
Rodicas Schreckensstarre löste sich. Zum Wald, das war ihre einzige Chance! Solange die Sonne noch schien! Sie raste los.
»Hinterher! Los, macht schon!«, hörte sie einen der Vampire brüllen.
Sie schoss den Weg hinunter. Die Bäume kamen so unendlich langsam näher! Sie warf einen Blick über die Schulter und keuchte entsetzt auf.
Einer der Vampire hatte sich auf ein Pferd geschwungen und galoppierte ihr nach.
»Nein!« Die Verzweiflung ließ sie noch schneller rennen, doch da war das Pferd bereits neben ihr und eine kräftige Hand ergriff sie am Arm. »Hierher, Schätzchen!«
Rodica schrie auf und biss in die Hand. Sie schmeckte Dreck, Schweiß und Blut auf der Zunge. Ihr Magen revoltierte.
Der Vampir brüllte und ließ sie los.
Sie fiel zu Boden, rappelte sich auf und raste zum Wald. Das Pferd war weiter galoppiert. Der Vampir krümmte sich und schrie wieder gepeinigt auf.
Rodica rannte zwischen die Bäume, hielt an und sah hektisch zurück. Das Pferd lief in einem Bogen zur Höhle. Nur dieser eine Vampir war ihr gefolgt. Er schlug sich eine Hand vor die Augen und riss sich mit der anderen das Hemd vom Leib, als bereite es ihm Höllenqualen. Schreiend vor Schmerzen verschwand er in der Höhle. Rodica verstand. Die Sonne hatte ihren Verfolger verbrannt. Seine Kumpane hatten sich wegen ihr erst gar nicht hinausgetraut.
Mit wild schlagendem Herzen drang sie weiter in den Wald ein. Sobald die Sonne verschwunden war, würden die Vampire sie suchen. Wo sollte sie sich verstecken? Dort, wo ihr kein Pferd folgen konnte!
Sie preschte durch die Bäume und Büsche zu den Felsen, begann, sie emporzuklettern, zurück zu dem Hochplateau, auf dem sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war. Sie rutschte ab, krallte sich an einem Strauch fest. Sie musste weiter, nach oben! Die Sonne schien noch, als sie sich über die Felskante auf das Plateau zog und weiter hastete. Nachdem die letzten Sonnenstrahlen verschwunden waren, versteckte sie sich in einer Spalte und starrte in Richtung der Schlucht, darauf gefasst, dass sie hinter ihr herkommen würden.
Doch die Vampire kamen nicht. Rodica blieb allein. Nach einer langen Zeit, in der sie es nicht gewagt hatte, sich zu bewegen, lehnte sie sich mit einem zittrigen Seufzer an den Felsen. Sie würde die Nacht hier verbringen und erst weiterwandern, wenn die Sonne wieder hoch am Himmel stand. Nicht im Tal, sondern oben am Rand dieses Hochplateaus, ganz gleich, wie mühsam das war.
Sie legte die Hand auf ihren gerundeten Bauch und streichelte ihn. »Wir haben Glück gehabt«, flüsterte sie. »Warum steige ich auch direkt vor einer Höhle in das Tal hinab! Ich muss besser aufpassen!«
Kapitel 27
»Hab keine Angst! Ich tue dir nichts!« Der Mann tauchte unvermittelt vor ihr auf.
Rodica stieß einen leisen Schrei aus und wich zurück. Wieder wanderte sie abseits des Wegs, folgte Wildpfaden, die sich zwischen Felsen, dürren Bäumen und Sträuchern schlängelten. Das deutlich vernehmbare Rauschen des Flusses, der inzwischen breit und reißend war, verhinderte, dass sie die Richtung verlor. Sie war über einige glatte Steine geklettert, als sie plötzlich dem Mann gegenüberstand. Er trug abgewetzte lederne Hosen und ein ledernes Hemd mit Fellbesatz. Seine Füße steckten in schweren Stiefeln. Das Gesicht unter dem hellen Haar war wettergegerbt.
Er hob beschwörend eine Hand, was ein wenig seltsam aussah, da er einen toten Hasen in ihr hielt. Als er das bemerkte, ließ er die Hand rasch sinken. »Wirklich, ich tue dir nichts.«
»Du hast mich erschreckt.« Rodicas Stimme war von der langen Zeit, in der sie mit niemandem gesprochen hatte, heiser geworden. Sie war seit zwei Monden unterwegs.
»Das tut mir leid.« Seine grünen Augen blickten freundlich. »Ich habe dich kommen hören. Meine Fallen stehen hier.«
»Du bist Fallensteller?«
»Ja, mein Name ist Venor.«
»Ich heiße Rodica«, stellte sie sich vor.
»Was machst du hier?« Venor sah auf ihren gerundeten Leib und runzelte die Stirn.
»Ich … ich will ins Niemandsland«, sagte sie lahm.
»Ins Niemandsland?«
»Ja.« Sie holte Luft. »Ich komme aus dem Gebirge. Ich bin geflohen, wegen meines Kindes.«
»Du warst bei … den Vampiren?«
Sie nickte.
»Verstehe«, murmelte er und warf einen unruhigen Blick über die Schulter.
»Oh«, sagte sie eilig, »du musst dir keine Sorgen machen. Meine Verfolger habe ich lange verloren und allen anderen bin ich aus dem Weg gegangen, Menschen wie Vampiren.«
Seine Anspannung schien zu verfliegen. »Sind dir denn Menschen begegnet?«
»Ja, ein Mann und eine Frau gleich nach meiner Flucht. Und dann noch zwei größere Gruppen. Aber ich habe mich jedes Mal vor ihnen versteckt.«
»Das war klug. Viele dieser Menschen sind verzweifelt. Man weiß nie, was sie machen werden. Ich gehe ihnen meist aus dem Weg.« Er sah wieder auf ihren Leib. »Bei dir war ich mir sicher, dass du mich nicht überfallen wirst.«
Rodica kicherte. Die Vorstellung, dass sie in ihrem Zustand diesen sehnigen Mann überfiel, war komisch.
Venor grinste und hob den Hasen wieder. »Magst du mit zu meiner Lagerstelle kommen? Ich brate uns etwas Fleisch.«
Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, doch sie zögerte.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Venor rasch. »Ich habe eine Tochter in deinem Alter. Und einen Enkelsohn. Der ist jetzt zwei Winter alt.«
Sie fasste sich ein Herz. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Venor ein guter Mann war. »Ich komme gerne mit. Aber ich will mich nicht zu weit vom Fluss entfernen.«
»Ah, du wanderst am Fluss entlang.« Er nickte und bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Da musst du aufpassen. Alle, Menschen und Vampire, nutzen den Weg am Fluss, um ins Gebirge zu gelangen oder es zu verlassen.«
»Ich weiß. Aber ich kenne sonst keinen Weg aus den Bergen.«
»Ich bringe dich wieder an die Stelle, wo wir uns getroffen haben«, versprach er. »Es gibt andere Wege, aber wenn man sich nicht auskennt, verirrt man sich unweigerlich. Ich selbst gehe hinauf in die Berge, sonst würde ich dich mitnehmen.«
»Kommst du aus dem Niemandsland?«, fragte sie neugierig.
»Nein. Ich komme aus einer der Städte, die weit nördlich des Gebirges liegen, aus Quadin. Ich bin auf dem Weg dahin zurück.«
»Wieso bist du hier? Ich meine, es ist doch gefährlich, gerade wegen der Vampire.«
Er zuckte mit den Schultern. »Die Städter zahlen gut für Felle und Fleisch der Wildtiere. Mein Vater musste für das, was ich für einen einzigen Jagdzug bekomme, fast einen ganzen Winter arbeiten.« Er sah sie von der Seite an. »Warst du eine … Sklavin?«
»Ja. Aber als ich merkte, dass ich guter Hoffnung war ‒.« Sie wusste instinktiv, dass sie ihm nicht sagen konnte, was hinter ihrer Flucht steckte.
»Wolltest du nicht, dass dein Kind als Sklave aufwächst.« Er nickte.