HASSO - Legende von Mallorca. Wolfgang Fabian

HASSO - Legende von Mallorca - Wolfgang Fabian


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alles war bereits ein Vorgeschmack auf die Verhältnisse, die der kommende russische Winter und das ihm folgende Frühjahr der Wehrmacht bieten sollten. Es fiel den beiden Beobachtenden aber auch deutlich auf, dass am diesseitigen Rand der Rollbahn Mannschafts- und Materialtransportfahrzeuge, wie beispielsweise sogenannte Kübelwagen, gelegentlich auch ein einsamer Kradmelder, weitaus besser und schneller vorankamen. Dieser schmale Streifen befand sich in einem verhältnismäßig guten Zustand.

      Hasso und Georg lagen in ihrer Deckung wie Jäger, die ein Stück Wild ausgemacht haben. Sie strapazierten ihr Gehirn mit Gedanken, die nicht realisiert werden konnten. Was sollten die beiden Flüchtigen tun? Wie sollte es mit ihnen weitergehen? Ratlosigkeit und Angstgefühle drohten sie in eine folgenschwere Verzweiflung zu stoßen. Doch sie strafften am Ende Geist und Körper und beschlossen, ihre gerade begonnene Flucht abzubrechen. Sie fassten zusammen: Auch mit Zivilzeug und der Verpflegung sei ihre Flucht zu einem schnellen Scheitern verurteilt. Und wie sahen sie ihre nahe Zukunft? Entweder sie liefen halb verhungert zum Feind über, falls das überhaupt gelingen könnte, oder sie landeten in den Fäusten von deutschen Feldgendarmen. Beides sei für sie wahrscheinlich das Todesurteil. Am besten sei es vermutlich, so ihre letzte Vorstellung, wenn sie sich den Russen ergeben würden, der sie als Deserteure gewiss nicht in Gefangenschaft schickte, sie stattdessen gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen ließen. Doch das sei auch wieder nicht das Beste für sie, da die Sowjetsoldaten sie vor Eintreffen in ihren Reihen erschießen könnten oder sie gingen im Kampf gegen die Deutschen zugrunde. Also blieben sie dabei, ihre Flucht abzubrechen und Anschluss bei den sich vermutlich absetzenden deutschen Infanteristen zu suchen. Es konnte vielleicht auch sein, sagten sie sich, dass die Sowjets inzwischen den Spieß umgedreht haben und dabei waren, die Deutschen aus ihrem Land zu jagen. Sie stellten diese Vermutung an, weil sie kein Fahrzeug Richtung Osten fahren sahen, ausgenommen gelegentliche Kradmelder mit und ohne Seiten-wagen. Sie richteten sich auf und marschierten ohne Hast auf die Rollbahn zu. Und als die Insassen eines heranrollenden verdecklosen Kübelwagens sie nicht übersehen konnten, winkten sie ihm entgegen. Das Fahrzeug zog nach links und hielt. Der Beifahrer beugte sich leicht über die Einstiegstür und rief Hasso und Georg zu:

      »Was wollt ihr? Warum haltet ihr uns an?«

       Das Warum erklärte Hasso mit stockenden Worten, wie ... versprengt ... Einheit nicht mehr gefunden ... Ausrüstungsteile auf der Flucht abhandengekommen ...

       Mit diesen Erklärungen schien sich der Beifahrer zufriedenzugeben und befahl den Anhaltern, einzusteigen. Ein Kübelwagen, auf dem hinter der Fahrerkabine drei oder vier sich gegenüberliegende gepolsterte Sitzplatzreihen installiert waren, wurde vorrangig als Transporter eingesetzt, beispielsweise für das Personal eines Stabes. Auf diesem jetzt offenen Fahrzeug gesellten sich Hasso und Georg zu drei Soldaten, die sich ihre Wehrmachtsdecken um die Schultern gehängt hatten. Ihre Sturmgewehre und Ausrüstungsgegenstände lagen auf einer abdeckenden Plane, unter der sich irgendwelche Gegenstände abzeichneten. Die jungen Männer waren SS-Soldaten und höchstens Anfang Zwanzig. Was ihre Kragenspiegel und Schulterklappen offenbarten, war von Hasso und Georg nicht nachzuvollziehen, sie hatten noch nicht einmal die Dienstgradabzeichen ihrer direkten Vorgesetzten einzuordnen gewusst.

      Nun wollten die drei SS-Männer natürlich wissen, mit wem sie es zu tun hatten, und warum sie unbewaffnet, ohne Stahlhelm und Gasmaske durch die Gegend gelaufen seien. Hasso gab die gleiche Erklärung ab wie wenige Minuten zuvor dem im Führerhaus sitzenden Beifahrer, sicherlich der Vorgesetzte dieser Männer.

      »Bei einem überstürzten Aufbruch aufgrund von Feindeinwirkungen geht eben manches verloren«, versetzte Hasso, »da kann man froh sein, wenn man nicht krepiert ist oder gefangengenommen wurde. Aber da sagen wir euch ja nichts Neues. Ihr kommt doch auch aus dem Schlamassel da vorne ...«

      »Wir konnten nichts mehr ändern«, behauptete der neben Hasso Sitzende. »Wir sind ganz einfach zu spät gekommen. Teile unserer Einheit sind bereits weit voraus. Wir gehören zum Nachkommando. Aber keine Angst, Kameraden, wir werden die Sache mit den Roten neu angehen und sie zurücktreiben. Im Donez lassen wir sie dann absaufen, falls wir sie nicht vorher in Grund und Boden gesprengt haben. Aber sagt mal: Ihr beiden seht aus, als hättet ihr gerade die Schule verlassen. Wie alt seid ihr eigentlich?« Hasso sagte es ihm und gleich dazu: »Noch vor dem Schulabschluss meldeten wir uns freiwillig.« Dann sprach Hasso eine andere Sache an, um von ihrer Situation abzulenken. »Auf dieser Seite kommt man gut voran«, sagte er, und Kamerad Mohr nickte heftig dazu und ergänzte: »Hier ist der Weg ziemlich glatt, die Fahrzeuge da drüben haben manchmal sichtlich Schwierigkeiten.«

      Auf dieser Seite gelte die Regelung, erwiderte der SS-Soldat, dass sich hier nur Sondereinheiten bewegen dürften. Die SS gehöre selbstverständlich dazu. Fahrzeuge der Wehrmachtsführung benützten diese Seite sowieso. »Für alle anderen ist sie gesperrt«, fügte der SS-Soldat hinzu. »Das alles überwachen die Kettenhunde, die haben immer alles vor dem Visier. Seht dort! Da vorn links auf der Anhöhe stehen welche.«

      Hoffentlich halten die uns nicht an und wollen kontrollieren, dachten Hasso und Georg zugleich.

      Die Männer von der Feldgendarmerie kontrollierten nicht. Das von ihnen früh erkannte taktische Zeichen an dem Kübelwagen vermittelte ihnen, dass sich der Wagen samt Besatzung auf der richtigen Spur bewegte. Für die Kettenhunde wäre es auch kaum denkbar, unter Spezial- oder Elitetruppen Fahnenflüchtige zu finden. Hier hatten sie nur darauf zu achten, unbefugte Fahrzeuge von dieser Fahrbahnseite fernzuhalten. Weitere Schrecksekunden überstanden Hasso und Georg, als sie – sie trauten zuerst ihren Augen nicht – ihre mehr stolpernde als marschierende Kompanie überholten. Ein strammes Marschieren waren die Häftlinge nicht gewöhnt, und auf den Bodenverhältnissen der Rollbahn war es für sie noch bedeutend schwieriger, ordentlich voranzukommen. Sie hatten also nur wenige Kilometer zurückgelegt, obwohl sie seit letzter Nacht unterwegs waren. Der SS-Kübelwagen überholte das sich dahin quälende Strafbataillon in nahem Abstand. Hasso und Georg mussten aber nicht befürchten, erkannt zu werden, jedermann dort drüben hatte mit sich selbst zu tun. Die beiden Fahnenflüchtigen erkannten nur wenige Kameraden aus ihrem Waggon. Die Gewissheit, dass es sich um ihre Strafeinheit handelte, vermittelte unverkennbar auch der Kompanie-Chef, der seine Stute am Zügel nach sich führte. Auch die Pferde der beiden anderen Kompanieführer wurden am Zügel geführt. Nach etwa drei Minuten hinter den letzten Männern des Strafbataillons folgte der Kübelwagen mit der Munition. In ihrer höchst angespannten psychischen Verfassung bedurften Hasso und Georg nur wenige Sekunden, um Situation und Einzelheiten einschätzen zu können. Seitens ihrer Kompanie – sollte schon gesagt werden, ihrer ehemaligen? – ging für sie keine Gefahr aus. Und die verhassten, von allen Dienstgraden gefürchteten Feldgendarmen, verächtlich Kettenhunde genannt, weithin erkennbar an der um ihre Hälse hängenden Ketten mit dem vor der Brust baumelnden fast sichelförmigen, silberfarbenen Erkennungsschild? Diese Ordnungspolizei war eine gefürchtete Gattung.

      Am späten Nachmittag fuhren sie in die Stadt Poltawa ein. Auf dem Marktplatz mussten Hasso und Georg das Fahrzeug verlassen. Reger, ja hektischer Betrieb herrschte hier. Was sollten die beiden immer unsicherer werdenden Ausreißer nun unternehmen? Einfach aufs Geratewohl weiter marschieren und zwischendurch Essbares erbetteln oder stehlen? Waren sie sich überhaupt bewusst, dass bei allen Umständen des Krieges sie kaum eine Chance hatten, halbwegs unversehrt in die Freiheit zu gelangen? Und wo wäre diese Freiheit zu finden? Sie wurden sich bewusst, dass sich eine weitere Fluchtmöglichkeit nicht bot. So blieb ihnen nichts Anderes übrig, sich entweder dem sicheren Verderben auszusetzen oder sich bei irgendeiner Einheit erneut als Verlorengegangene auszugeben. Und da sie sich als einzige Hoffnung einredeten, dass ihnen eine beabsichtigte Fahnenflucht nur schwer nachzuweisen sei, versuchten sie, sich in der Kommandantur, die in einem Gebäude am Marktplatz untergebracht war, zu melden. Ausweisen konnten sie sich allerdings nur als Angehörige eines Strafbataillons. Dass diese Tatsache ihre Situation verschlechtern könnte, nämlich, dass man sie den Kettenhunden übergeben werde, daran dachten sie nicht. Quälender Hunger und Hilflosigkeit überdeckten ihre Ängste. Somit versuchten sie, in die Kommandantur zu gelangen, was ihnen dann endlich gelang. Nicht nur auf dem Platz herrschte eine kaum zuzuordnende hektische Betriebsamkeit, auch im Eingangsbereich dieser Dienststelle ging es zu wie vor der Ein- und Ausflugsöffnung eines Bienenkorbes. Zum eigentlichen Treppenhaus hinauf führten sechs breite steinerne Stufen. Oben im Treppenhaus angekommen, sprach Hasso


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