2145 - Die Verfolgten. Katherina Ushachov
nachgeflogen.
Vielleicht würde sie es nicht schaffen, vor Tagesanbruch die Stadt zu verlassen. Aber ihr UniCom sagte ihr, dass der Multihafen von Atlanta in der Nähe war. Von dort aus fand sie bestimmt einen Zug aus der Stadt. Oder einen billigen Kleinflieger.
Und es würde niemandem auffallen, wenn sie bis zum nächsten Aufenthalt ein wenig schlief.
16. Avriel Adamski – Gordon City – 08.07.2145
Avriel musste irgendwann in seinem Versteck eingedöst sein, er erwachte vom durchdringenden Vibrieren des UniComs.
»Bist du noch nicht weg?«
Avriel stand mühsam auf und stellte fest, dass ihm im Schlaf Speichel aus dem Mund geronnen war. Ekelhaft. Er wischte sich über den Mund, streckte sich und schrieb dann erst zurück: »Ich bin wach. Kann losgehen.«
Konnte es eigentlich kein bisschen, aber je eher er wegkam, desto besser.
Er musste nicht lange warten, fünf Minuten später erreichte ihn die nächste Nachricht von Todd: »RENN!«
Und er rannte. Durch den Keller, raus aus der kleinen Tür, die zu einer ebenerdigen Feuerleiter führte und ins nächste Gebüsch. Dort verschnaufte er kurz, ehe er sich unter die morgendlichen Fußgänger von Gordon City mischte.
Die meisten Schüler und Berufstätigen waren längst in ihren Schulen oder Büros, trotzdem waren zahlreiche Leute unterwegs.
Leute, die verschlafen hatten, Bummler, Rentner.
Avriel blieb vor einem Schaufenster stehen und starrte sein Spiegelbild an. Mit den kurzen Haaren sah sein Gesicht irgendwie komisch aus, die Augen wirkten viel zu groß. Vorsichtig strich er sich mit der Hand über die fünf Millimeter Blondhaar, die Todd ihm noch gelassen hatte. Fühlte sich seltsam an.
Er musste jetzt einen Weg finden, schnell und unauffällig zum Haus einer gewissen Ariane Faw in Atlanta zu gelangen.
Avriel drehte sich um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich Rod’s vollautomatische Carsharing-Anlage, wo er schon als Dreizehnjähriger tagsüber im zugehörigen Café gejobbt hatte.
Er blickte sich um und hastete über die Straße.
Mit feuchten Händen fummelte er seine ID-Card aus der Hosentasche und brauchte vor Nervosität eine Weile, um sie in den Türschlitz zu stecken. Er sprang vor Schreck fast in die Luft, als die Schiebetür beim Öffnen zischte. Mit klopfendem Herzen schlich er in die Anlage und erschrak jedes Mal, wenn sein Näherkommen eine kleine Neonleuchte anschaltete.
Er huschte in die Garage und steckte seine Karte in das Lesegerät neben dem erstbesten Elektroauto. Es war ein dunkelblauer Ecogreen Cheetah Bolt von 2140. Die Autotür öffnete sich und er nahm die Karte wieder an sich.
Auf dem Fahrersitz wischte er seine schweißnassen Hände an seiner Jeans ab und zwang sich, die Routinechecks durchzuführen. Ob kein Warnlämpchen blinkte und für welche Strecken der Akku reichte. Er wählte die längste – nach Atlanta – und fuhr aus der Garage. Dann aktivierte er den Autopiloten.
Er begriff: Niemand durfte ihn entdecken, aber er hinterließ die ganze Zeit digitale Spuren. Sollten die Behörden seinen Namen kennen, war er geliefert, wohin er auch ging. Dann würde es nur Sekunden dauern, bis seine Bank seine Zahlungshistorie offenlegen müsste …
Atlanta war nur eine Stunde entfernt, er hatte noch gar keine Zeit gehabt, sich eine Strategie zu überlegen. Was, wenn Ariane Faw gar nicht mehr dort wohnte?
Und wieso hatte er das nicht bedacht, bevor er sich nach Atlanta fahren ließ?
Schließlich hielt er zwei Häuser von Arianes Adresse entfernt unter einem Baum. Möglichst leise stieg er aus und kauerte sich zwischen Baum und Wagen, um nicht gesehen zu werden.
In unmittelbarer Nähe befand sich ein Zigarettenautomat. Und wie neben jedem Zigarettenautomaten auf der ganzen Welt stand auch neben diesem eine animierte Reklamesäule und blendete abwechselnd Werbung und aktuelle Nachrichten ein.
Er musste unbedingt einen Blick darauf werfen, um zu erfahren, ob er bereits in der ganzen United World gesucht wurde.
Die Säule blendete erst die aktuelle Quizfrage des Tages ein, dann Werbung für das neueste UniCom-Modell einer überteuerten Marke, danach erst die Politik-News.
Ein körniges Bild von ihm, bei dem die Haare einen Großteil seines Gesichts verdeckten, zu seinen Füßen eine Gestalt, die nur Valentine sein konnte.
Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen, wandte seinen Blick ab und lehnte sich gegen den Zigarettenautomaten.
»Alles in Ordnung?« Eine Frau mit grünen Dreadlocks und einem Collie-Mischling an der Leine tippte ihn an.
»Ja. Ja, mir geht es gut. Ich muss nur …«
»Ich kann das sehr gut verstehen.« Sie grinste und versetzte dabei ihre Lippenpiercings in Schwingung. Sie klingelten leise aneinander. »Mir wird von zu viel Kapitalismus auch immer schlecht.«
»Ja. Genau das ist es.« Avriel atmete tief durch.
Die junge Frau lächelte ihm zu und ließ sich von ihrem Hund davonziehen. Entweder hatte sie sein Bild nicht gesehen – oder ihn tatsächlich nicht erkannt.
Avriel blickte auf die Zeitanzeige an seinem UniCom. Halb neun am Morgen war vermutlich nicht die beste Zeit, um das Haus einer Mutantin aufzusuchen, aber er hatte keine Wahl. Dann klingelte er sie eben aus dem Bett. Er selbst fühlte, wie sich die nahezu schlaflosen Nächte und durchwachten Tage bemerkbar machten. Wie lange würde er das durchhalten, ohne verrückt zu werden?
Aber verrückt war er wohl schon. In einem Anfall von Wahnsinn hatte er …
Stopp.
Er zwang sich, diese Gedanken vorerst zu verdrängen. Sie drehten sich ohnehin nur im Kreis, wenn er sie zuließ. Es war nicht weit bis zu Ariane Faw, er durfte nur einen Schritt nach dem anderen machen.
Avriel wusste nicht, was er erwartet hatte – aber sicher kein vollkommen normales Einfamilienhaus, wie es auch in seiner Gegend von Gordon City hätte stehen können. Vermutlich zögerte er darum, auf die Klingel zu drücken.
Doch nichts passierte.
Hinter den Vorhängen rührte sich niemand, wie lange er auch den Knopf drückte.
Also blieb ihm nichts anderes übrig,