2145 - Die Verfolgten. Katherina Ushachov
»Ich bin direkt vor dem Waisenhaus und muss irgendwie rein, ohne dass die Ronny das mitkriegt. Sind noch Soldaten hier?«
»Die sind weg. Die Nachricht vom Weißen Haus, bist du das? Alter, was hast du angestellt?«
»Hilfst du mir?«
»Nur, wenn du mir nichts tust. Da stand was von ›gefährlich‹ im Aufruf.«
»Ich habe nicht vor, dich aufzufressen …«
»Okay. Ich mache dir das Kellerfenster auf.«
»Danke. Hast was gut bei mir.« Nicht, dass Avriel wusste, wie er Todd irgendetwas zurückzahlen sollte, aber er musste ins Waisenhaus hinein, die Wiedergutmachung konnte warten. Er schlich sich an der Hauswand entlang zur nördlichen Seite, wo er den Zugang zum Keller kannte. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich die Heimkinder regelmäßig dort aus dem Haus und wieder hinein schlichen. Nur scheiterte die Heimleitung anscheinend an ihren kläglichen Versuchen, herauszufinden, wo sich der Durchgang befand und wie man ihn stopfen konnte.
Gut für Avriel.
Das Fenster war tatsächlich offen und er quetschte sich hindurch.
»Was ist passiert?« Im schummrigen Kellerlicht sah Avriel nur das Weiße in Todds Augen.
»Lange Geschichte. Ich habe eine Menge Ärger am Hals.«
»Und da willst du dich ausgerechnet hier verstecken?«
»Ich wüsste nicht, wo sonst! Es ist Sperrstunde.«
»Ja, gut …« Todd kratzte sich am Kopf. »Du willst nicht, dass die Ronny weiß, dass du hier bist, oder?«
»Zuerst wollte ich zum Abendessen kommen, aber … Nein. Ich muss …« Avriel fuhr sich durch die Haare und fühlte getrocknetes Blut an den Haarspitzen. Offenbar hatte er im Park nicht alles erwischt.
»Dich umziehen …?«
»Das auch. Die Haare müssen ab.«
»Die Mädchen fliegen auf deine langen Haare!«
Avriel dachte an Valentine. »Ich weiß. Weg damit.«
10. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
Er konnte nicht ewig auf diese Streams schauen, die ohnehin alles Mögliche zeigten, nur nicht das, was er sehen wollte – einen toten Mutanten.
Er ignorierte die Nachrichten, die seinen UniCom zum Vibrieren brachten, und dachte nach.
Riú hatte alles, was sich die meisten Menschen erträumten. Das einzige Amt, bei dem niemand über ihm stand und ihm irgendwelche Befehle erteilen konnte. Absolute Macht über jeden Menschen auf seinem Planeten. Geld. Und er wusste, dass er nur einmal winken musste, um an jeder Hand zig Frauen zu haben. Nicht, weil er der Präsident war, sondern weil er trotz Verzicht auf die ganzen neumodischen Mittelchen immer noch so gut aussah wie ein Model.
Selbst die Mutanten hatte er unter Kontrolle. Von ihnen ging nur vereinzelt Gefahr aus.
Wie von diesem Jungen, den er jagen ließ – womit seine Gedanken wieder bei dem Teenager waren, dessen Leiche er sehen wollte.
Sein UniCom vibrierte erneut. Ein Anruf.
Riú starrte auf das Display. Das war die Nummer von Mr Green.
»Ich habe die Leute, die die Gelder veruntreut haben.«
Riú grinste, auch wenn er wusste, dass Mr Green ihn nicht sehen konnte. Vielleicht war das auch besser so. »Gut. Ich will, dass sie mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden, Mr Green. Ich werde ein Auge auf die Angelegenheit haben.«
»Natürlich, Mr President.«
Zumindest ein Triumph an diesem Tag.
11. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
»Sicher, dass du das tun willst?«
»Ganz sicher. Ich habe keine andere Wahl.« Avriel schloss die Augen und vertraute seinem besten Freund.
Das gewohnte Sirren bewies, dass Todd den drahtlosen Trimmer eingeschaltet hatte, und bald darauf fühlte Avriel die Aufsätze über seinen Kopf kratzen.
Obwohl er die Lider geschlossen hielt, hatte er genau vor Augen, wie Locke um Locke neben seine Schuhe fiel. Als würde Todd sein Herz rasieren, nicht seinen Kopf.
Erst als das Sirren endete, öffnete er die Augen. »Wie furchtbar sehe ich aus?«
»Ungewohnt. Jetzt hast du so riesige Hungeraugen und … woah, das sieht schräg aus.« Todd leuchtete Avriel mit dem UniCom ins Gesicht.
»Das sieht schräg aus?«
»Na ja, es wussten fast alle Kids, dass du ein Mutant sein musst.«
»Was?«
»Ja klar. Man sah es dir zwar nicht an, aber war ja offensichtlich, wenn du nach dem Abendessen völlig aufgedreht warst und niemand einschlafen konnte, weil du noch irgendeinen Schwachsinn geredet hast fast bis zum Morgen.«
»Aber die Ronny und die anderen …«
»Denen ist doch egal, wer du bist, solange sie für dich kassieren. Vermutlich hätten sie dich halt sofort ausgeliefert.«
»Und ihr habt mich nicht verraten?«
»Wir sind deine Freunde …?«
Avriel fühlte, wie sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. »Also … danke, Todd.«
»Du willst nicht wissen, was der Plan ist?«
»Doch.«
»Ich habe hier Klamotten für dich. Die anderen machen Radau, damit die Ronny beschäftigt ist und keine Zeit hat, die Nachricht zu lesen. Und wir zwei brechen ins Aktenzimmer ein.«
»Bist du bescheuert?« Jetzt von der Ronny erwischt zu werden, wäre schlimm.
»Na ja, wenn du wissen willst, wohin du abhauen sollst, brauchst du deine Akte, oder nicht?«
Avriel nickte. Er hatte nichts mehr zu verlieren.
»Dann los.« Todd sah auf seinen UniCom. »Sie staucht gerade jemanden im Garten zusammen. Los!«
Avriel folgte seinem besten Freund geduckt und im Laufschritt durch die vertrauten Korridore.
In der Ferne hörte er lärmende Jugendliche und die durchdringende Stimme von Emma Ronnington. Je weiter weg sie erklang, desto besser.
Erdgeschoss, erster Stock, zweiter Stock.
»Ronny ist jetzt in der Turnhalle, Noah hat sämtliche Bälle durcheinandergeworfen.«