Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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fragte sich, warum es ihrer Erzieherin nicht gelungen war, den Krebs abzuschütteln. Sie war gestorben, obwohl sie, wie Tilda später erfuhr, alle üblichen Therapien ausgeschöpft hatte.

      Doro war es gewesen, die ihr die schreckliche Nachricht überbracht hatte. Ihre Schwester hatte immer noch gute Kontakte nach Klein Trebbow. Vielleicht kam das daher, dass sie, die seit über zwölf Jahren schon mit Mann und Kindern in den USA lebte und so weit weg von Deutschland war, die alten Freundschaften aus der Kinderzeit viel intensiver pflegte. Ihre Schwester hatte, so lange sich Tilda erinnern konnte, in Klein Trebbow immer mit ihrer Kinderfreundin Sandra Kontakt gehalten. Sandra war zu Doros Außenposten in der deutschen Pampa geworden. Mit ihr mailte oder telefonierte sie jede Woche. Auch Sandra hatte inzwischen, so wie Doro selbst, einen Ehemann und drei Kinder. Tilda hatte ein Foto von ihr gesehen und war erstaunt darüber gewesen, dass Sandra ihrer Mutter inzwischen zum Verwechseln ähnlich sah. Sie schien glücklich mit dem örtlichen Klempner verheiratet zu sein und wie es sich gehörte war sie bodenständig im Dorf geblieben. Jedenfalls war Sandra immer bestens über alles informiert. Es mochte sein, dass nicht ganz so wohlmeinende Stimmen aus dem Dorf ihr hinter vorgehaltener Hand den Spitznamen „Die Dorfzeitung“ gegeben hatten. Aber mit der Dorfzeitung befreundet zu sein, garantierte Doro selbst über eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern hinweg, immer präzise auf dem letzten Stand der Dinge zu sein, die sich in Klein Trebbow und Umgebung ereigneten.

      Tilda fand es wirklich erstaunlich, wie präsent das alles noch in ihrer Erinnerung war. Jetzt, wo sie daran dachte, hätte sie sogar die Namen aller Kinder, mit denen sie gemeinsam in den Kindergarten gegangen war, aufzählen können. Allerdings hatte sie im Gegensatz zu ihrer Schwester nach dem Umzug recht schnell den Kontakt verloren. Vielleicht hatte das daran gelegen, dass sie in der großen Stadt schnell neue Freundinnen gefunden hatte und auch daran, dass sie in Klein Trebbow nicht so eine Busenfreundin zurückgelassen hatte wie ihre Schwester. Tilda hatte überhaupt keine Ahnung davon, was aus den meisten anderen von damals geworden war. Trotzdem war die Erinnerung an diesen wundervollen Kindergarten und das Landleben in den Jahren danach kaum verblasst. Wie oft hatten sie als Kinder zusammen mit den Erzieherinnen Nudeln mit Tomatensoße in der winzigen Küche des Kindergartens gekocht? Wie oft hatten sie Gemüse für einen Salat klein geschnitten, das sie aus den elterlichen Gärten mitgebracht hatten? Wie oft hatten sie mit Fräulein Mielke die Vogelhäuschen auf dem Kindergartengelände mit Vogelfutter gefüllt, aus Perlen Ketten und Untersetzer gefädelt, Bäumchen gepflanzt und sogar einmal eine verletzte Amsel aufgepäppelt? Wie oft hatten sie gemeinsam aus Ästen, Zweigen und Moos Hütten im nahen Wald gebaut oder hatten dort herumgetobt und verstecken gespielt? Tilda war sich sicher, dass dieser wunderbare Land-Kindergarten mit seinen Freiheiten der Beste war, das einem Kind zu Beginn seines Erdenlebens passieren konnte. Inzwischen war er geschlossen. Es gab nicht mehr genug Kinder im Dorf.

      Jetzt wo Tilda erwachsen war, in Hamburg lebte und selbst an einer Schule arbeitete, kannte sie auch den Erlebnishorizont der Stadtkinder. Bestimmt hatten die meisten von ihnen keine Ahnung davon, wie man am schnellsten auf einen Baum klettern konnte oder wie man in eine Schlammpfütze hüpfen musste, damit alle anderen in der Nähe voll Schlamm waren, man selbst aber sauber blieb. Bestimmt hatten sie im Herbst noch nie Säcke voller Eicheln und Kastanien für die Tiere des Waldes gesammelt. Und sie hatten sie anschließend auch nicht mit einem Handwagen zum Forsthaus im Wald gezogen, um anschließend gemeinsam mit dem alten Förster am Lagerfeuer Stockbrot zu backen.

      Sicher, es gab Kinos in der Stadt, Spielplätze, Hüpfburgen und Einkaufszentren und die Stadtkinder kannten sich oft besser mit ihren Smartphones aus. Sie konnten schon frühzeitig ihre Fahrkarten für Bus und Bahn allein am Automaten lösen. Es war wirklich schwierig, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Es fühlte sich für Tilda an, als würde sie Äpfel mit Birnen vergleichen wollen. Welches der Stadtkinder hatte schon gelernt, Frösche zu fangen, ohne sie zu verletzen und welches konnte die Vögel des Waldes an ihrem Ruf unterscheiden? Die Stadtkinder konnten Automarken voneinander unterscheiden. Tilda war irgendwann in der Stadt klar geworden, dass die Wenigsten von diesen Kindern jemals diese Art unendlicher Freiheit kennenlernen würden, deren Magie sie und ihre Schwester unauslöschlich mit hinüber in ihr Erwachsenenleben genommen hatten. Auch Doro, mit der sie später gemeinsam mit den anderen Dorfkindern in die 15 Busminuten entfernte kleine Schule in Lankow ging, war nach dem Umzug wochenlang tief erschüttert gewesen. Hatte sie doch alle ihre Freundinnen in Klein Trebbow zurücklassen müssen. Tilda hatte diesen Umstand ebenfalls als ein wahrhaftiges Drama in Erinnerung mit Sturzbächen von Tränen und mit Fieber, Bauchschmerzen und Schüttelfrost. Damals war ihnen beiden noch nicht klar gewesen, dass es in ihrem Leben nie wieder so werden würde, wie es gewesen war. Und doch war die Hoffnung auf ein Leben auf dem Lande auch später irgendwo immer tief in ihnen geblieben.

      Das Häuschen ihrer Großmutter hatten ihre Eltern damals verkaufen müssen. Sie hätten sich von Hamburg aus nicht darum kümmern können. Das zumindest hatten sie ihren Töchtern erklärt. Dafür waren sie in eine schicke Wohnung mit Balkon in der Stadt gezogen. Die Mädchen hatten ihre eigenen Zimmer bekommen mit rosa Tapeten und neue Fahrräder und irgendwann verblasste auch die Erinnerung an Klein Trebbow ein wenig. Der neue Alltag hatte das Heimweh weggewischt. Das Häuschen von Omi gab es inzwischen nicht mehr. Es war abgerissen worden. Der Käufer von damals hatte es zugrunde renoviert. Es war nicht mehr zu retten gewesen. Ihre Eltern Thomas und Brigitte hatten nie darüber gesprochen. Jetzt, wo sie im Ruhestand waren, begannen sie wieder nach einer neuen Bleibe in Klein Trebbow Ausschau zu halten. Sie wollten zurück nach Hause, zurück auf´s Land, woher sie gekommen waren. Anfangs fand Tilda diesen Gedanken verrückt, aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr konnte sie ihre Eltern inzwischen verstehen.

      Letztendlich hatte es die ganze Familie irgendwann mehr oder weniger geschafft, das Heimweh abzustreifen. Die Kinder mussten der Tatsache ins Auge sehen, dass die berufliche Karriere ihren Eltern wichtiger war, als ihre Freiheiten auf dem Lande. Es wurde in der Folgezeit nicht mehr viel darüber gesprochen. Wohl auch, um nicht ständig alte Wunden aufzureißen. Die Stadt Hamburg war voller Leben und Aktivitäten und entschädigte sie auf ihre Art für den Verlust der alten Heimat. Diese Stadt war kein Ort, um unglücklich zu sein. Doro und Tilda hatten schnell neue Freunde gefunden. Und ihre Eltern hatten sich nach Kräften bemüht, mit ihnen die neue Umgebung zu erkunden. Tilda erinnerte sich noch an ihre gemeinsamen Stadt-Erkundungstouren an den Wochenenden, die sie eine lange Zeit über regelmäßig unternommen hatten. Meist endeten diese Touren dann im Kino, im Zoo oder in einem Fastfood-Restaurant. Die Stadt wurde in ihren Augen bald zum großen, neuen Abenteuer. Obwohl Tilda und ihre Schwester immer noch Heimweh hatten und nach wie vor still ihrer verlorenen Mecklenburger Freiheit hinterhertrauerten, konnten sie sich bald nicht mehr wirklich vorstellen, je wieder so weit draußen auf dem Land zu wohnen. Dort, wo nur viermal am Tag ein Bus in die nächste Stadt fuhr und wo man ohne Auto vollkommen aufgeschmissen war. Aus zwei kleinen Landeiern waren zwei Stadtkinder geworden. Doch die Sehnsucht nach der alten Heimat war nie ganz weggegangen.

      Jetzt, nach über zwanzig Jahren, verkündete Tildas Mutter am Telefon erneut, wie sehr sie das Landleben vermissen würde. Genau genommen war es noch nicht einmal einen Monat her, dass ihre Eltern sie und Ludwig beim gemeinsamen Kaffeetrinken in ihrem Wohnzimmer mit der Tatsache überrascht hatten, dass sie wieder zurück nach Klein Trebbow zu wollen. „Alles hat seine Zeit“, hatte ihr Vater Thomas an diesem Nachmittag gesagt und dabei merkwürdig vor sich hingelächelt. „Der Lebensabschnitt Hamburg nähert sich für uns dem Ende. Es ist einfach so.“ Für Tilda kam die Idee ihrer Eltern vollkommen überraschend. Natürlich konnte sie die beiden irgendwie verstehen. Inzwischen sah es tatsächlich so aus, als würden sie dort ein kleines Häuschen in einer neuen Wohnsiedlung kaufen können. Das Haus war noch im Bau und alles war noch in der Schwebe. Sandra, Doros Außenposten in Klein Trebbow, hatte ganze Arbeit geleistet und alles, soweit möglich, schon in die Wege geleitet. Wahrscheinlich war es nicht mehr als eine Kleinigkeit für sie gewesen. Sie hatte ihrem Mann, dem Klempner Bodo mit den Segelohren Bescheid gesagt, der hatte seinem Chef Bescheid gesagt, der wiederum hatte dem Investor Bescheid gesagt und schon war der Deal perfekt gewesen. Tilda fand noch immer nicht, dass es eine gute Idee war, ihre Eltern im Alter so weit entfernt zu wissen. Es gab keinen Arzt im Dorf, keine Apotheke und keinen Supermarkt in der Nähe, noch nicht einmal im Nachbardorf.

      Aber verstehen konnte sie ihre Eltern. Selbstverständlich waren


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