Die Revolution der Bäume. H. C. Licht

Die Revolution der Bäume - H. C. Licht


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alle Bewohner des Waldes aus dem wohlverdienten Schlaf. Alle, bis auf die gewohnheitsmäßigen Nachtschwärmer und zurückgezogen lebenden Nachtschattengewächse, die den klammheimlichen Einzug der jungen Leute mit Argusaugen beobachten.

      Während sich die Neuankömmlinge mit Sack und Pack auf einer, im Zentrum des Waldes gelegenen, Lichtung ausbreiten und damit wie selbstverständlich den Versammlungsort der hier heimischen Fauna und Flora in Beschlag nehmen, macht die Kunde von dem ungebetenen Besuch schnell die Runde. Die zuverlässigsten Schnellkuriere und Wächter des Waldes sind die Eichelhäher, ihre Großfamilien sind extrem engmaschig vernetzt und tragen jede Neuigkeit in Windeseile in alle Welt. Neben ihrer hässlichen Angewohnheit, die Nester von heimischen Singvögeln zu plündern, haben sie allerdings auch den Ruf, die allergrößten Lästermäuler der westlichen Hemisphäre zu sein, eine kleine Charakterschwäche, die ihr kommunikatives Talent wohl unweigerlich mit sich bringt. Bei diesem äußerst umtriebigen Vogelvolk halten sich Licht und Schatten federgenau die Waage.

      So wie die alte Eiche im Weihtaler Forst die Rolle des Mediums inne hat, gibt es bei den frisch Zugezogenen einen jungen Mann namens Jo, der für diese Aufgabe prädestiniert ist. Allerdings ist er das eher unfreiwillig, noch hadert er mit seinem Schicksal, das einen klar umrissenen Plan zu verfolgen scheint.

       Es versucht, ihn dazu zu motivieren, dem Sumpf aus konfuser Stagnation, in dem er sich momentan befindet, eine Form zu geben. Der Plan, den es dabei verfolgt, ist aus seiner Not eine Tugend zu machen und dieser auf diese Weise einen tieferen Sinn zu verleihen. Vor allem gilt es zu vermeiden, dass aus einer Übergangsphase eine Dauerlösung wird. Sein momentanes Lebensgefühl ließe sich, nach seinem ausgedehnten Ausflug in das Nirwana lupenreiner Ekstase, aktuell am treffendsten als schweres Schweben charakterisieren.

       Der Junge nennt sich Jo wie „Jo“ und nicht wie im Amerikanischen, „Dscho“. Und es scheint fast so, als ob ein großer Geist, der über die Wege aller Lebewesen wacht, die erklärte Absicht hat, aus der gerade erst überstandenen lebensbedrohlichen Krise um seinen labilen Geisteszustand, eine Chance auf einen Neubeginn zu generieren.

      „Rückblickend hat das Unheil mit einer einzigen Pille begonnen.“, redet er sich sein Drama gerne schön. Eine reichlich verklärte Sicht der Dinge, die auch faktisch nicht ganz der Wahrheit entspricht. Nach Jahren polytoxischer Selbstexperimente, war es wohl eher einer der kleinen, bunten Spaßmacher zu viel, den er sich eingeworfen hat ohne auf die lange Liste der Inhaltsstoffe zu achten. Die eine, aus höllisch miesen Zutaten zusammengepanschte Superpille, auf die er besser verzichtet hätte und von der er seitdem nicht mehr so ganz herunter kommt.

      Verborgen hinter Jos supercooler Fassade, hat sich das fiese, kleine Ding zu einer, in Ungewissheit getarnten, dunklen Instanz entwickelt, die ihn mittels Angst in Schach hält, Angst vor den Nachwirkungen, die in Gestalt von abgründigen Horrortrips jederzeit aus dem Hinterhalt über ihn hereinbrechen könnten. Der Preis, den der goldene Reiter für seinen extraordinären Höhenflug zahlt, ist astronomisch hoch, denn ein ausgesprochen einfallsreiches Monster befehligt die molekularen Altlasten seiner beschwingten Drogenkarriere. In unregelmäßigen Abständen ergeben sich im Mikrokosmos seiner Blutbahnen neue chemische Verbindungen, die ihn in Form von extremen Flashbacks heimsuchen. Wohin die nächste Reise gehen wird, ist und bleibt schlichtweg unkalkulierbar.

      „Ich bereue nichts!“, ist einer der markigen Sprüche, die Jo im Brustton der Überzeugung allzu gerne von sich gibt. Aber auch wenn seine Zuhörer stets verständnisvoll nicken, Texte wie „Jau, is' ja logo, Jo!“ absondern und ihm anerkennend auf die Schulter klopfen, Jo weiß es besser. Insgeheim wünscht er sich, er hätte ein paar der günstigen Gelegenheiten ausgelassen, auch wenn sie sich ihm, in allen Regenbogenfarben verführerisch schillernd, an den Hals warfen oder for free am Wegesrand lockten, betörend wie die Sirenen, die Odysseus einst in Versuchung führten.

      Diese Art von Rückschau ist natürlich ein rein theoretisches Gedankenspiel, pure Illusion. Entweder waren diese Optionen viel zu geil oder er einfach nur zu schwach gewesen, eine klare Entscheidung zu treffen. Sobald es um Drogen oder schnellen Sex ging, verwandelte er sich in einen Eiermann, der niemals deutlich „nein“ sagen konnte. Allerhöchstens zu einem vagen „Vielleicht heute besser mal nicht“ fühlte er sich in seinen hellen Momenten imstande und das bedeutete soviel wie „Her damit! Ist immer noch besser als nichts“.

      Gepaart mit seinem fatalen Unvermögen, zwischen dem zu unterscheiden, was ihm gut tut und was nicht, waren die Weichen gestellt für einen rasanten Todestrip. Unter diesem morbiden Blickwinkel betrachtet, hat er noch mal eine Riesenportion Glück gehabt, Glück im Unglück. Wenn es so etwas wie Schutzengel tatsächlich geben sollte, hat Jo den, der so mutig war, sich für ihn zuständig zu erklären, mit Sicherheit an die Grenze eines amtlichen Burnouts gebracht.

      Gut, dass er an frische Batterien gedacht hat. Der Lichtkegel der Taschenlampe ist so, wie er sein soll, strahlend weiß und knallhell. Groß und rund wie ein auf die Erde gestürzter Vollmond hüpft er von Baum zu Busch, erfasst die zahlreichen Unebenheiten auf dem schmalen Weg, bevor Jo darüber stolpert.

      Am Rand der Lichtung steht eine wunderschöne, große Eiche. Jo erreicht sie als erster. Er hat nicht umsonst Vollgas gegeben auf dem finalen Abschnitt des Trampelpfades, einem smaragdgrünen Tunnel, der sich durch das dichte, mannshohe Unterholz schlängelte. Eins der ungeschrieben Gesetze jeder direkten Aktion lautet, sich zunächst einen strategisch vorteilhaften und optimal platzierten Ankerpunkt zu sichern. Diesbezüglich ist sich jeder der Nächste. Schließlich wird er in den nächsten Wochen oder vielleicht sogar Monaten hier zu Hause sein.

      Eine überaus glückliche Wahl, locker fünfhundert Jahre alt und einen beeindruckenden Stammumfang von mindestens acht Metern. Die Eiche gipfelt in ungefähr dreißig Metern Höhe in einer ausladenden Krone und eignet sich perfekt für ein geräumiges Baumhaus.

      Jo schüttelt seinen riesigen, schweren Rucksack ab und lässt ihn, untermalt von einem Stoßseufzer der Erleichterung, auf das weit verzweigte Wurzelgeflecht des Baumes plumpsen. Damit gilt das mit Sicherheit schönste Exemplar des Waldes als reserviert. Ein Vorgang, der dem selben simplen Prinzip folgt wie das symbolische Handtuch, das Touristen in aller Herrgottsfrühe, sorgsam und akkurat rechteckig auf der begehrtesten Liege ausgerichtet, am Swimmingpool des Hotels platzieren.

      Jo ist sich selbstredend vollkommen im Klaren darüber, dass so ein Verhalten alberner Spießerkram ist, aber man muss nun einmal Prioritäten setzen. Wenn es hart auf hart kommt, will er seine Freiheit und körperliche Unversehrtheit ja nicht für irgendeinen halbwüchsigen Mickerling von Sprössling auf's Spiel setzen. Außerdem weiß Jo aus Erfahrung, das die Szenefrauen auf dicke Dinger stehen. Da hat man als ungebundener, halbwegs attraktiver Typ gute Chancen auf einen Überraschungsbesuch. Die Art von Besuch, die bis zum Frühstück bleibt.

      Emsig wie ein Bienenschwarm im Frühling schwärmt die kunterbunte Meute aus. Bäume werden wie Trophäen in Beschlag genommen, miteinander verglichen und zur Probe erklommen. Aufgeregtes Schwatzen, Hämmern und Sägen erfüllt die Luft, wobei Hermann, das etwas in die Jahre gekommene, aber total angesagte Leitbild aller aktiven Baumbesetzer mit Argusaugen darauf achtet, dass kein Mitglied seiner temporären Anhängerschaft auch nur mit dem Gedanken spielt, einen Nagel in einen Baum zu schlagen.

       Was direkte Aktionen im Bereich Naturschutz angeht, ist Jo ein Profi und hat die ungeschriebenen Gesetze längst verinnerlicht. Keine Nägel in lebendiges Holz! Niemals und unter keinen Umständen! Das gilt als ernst zu nehmendes Tabu und wird bei Nichtbeachtung auch dementsprechend streng geahndet. Da braucht niemand im Nachhinein den Versuch zu wagen, irgendwelche statischen oder sonstige baulichen Argumente vorzubringen. Misshandlungen von Bäumen entsprechen dem Sakrileg religiöser Gemeinschaften und werden zwar nicht mit öffentlicher Steinigung, aber mit sofortigem Ausschluss aus der Zelle und lebenslanger Ächtung bestraft. Das heißt im Klartext, dass sich der Verurteilte bundesweit bei keiner Aktion mehr blicken lassen kann und in seiner Wahlfamilie, einer kleinen, aber feinen Szene von militanten Naturschützern, zur Persona non grata erklärt wird.

      Jo weiß aus eigener, leidvoller Erfahrung, dass sich auch kollektiver Rufmord ganz schnell zu einer Art Todesstrafe ausweiten kann. Als er auf dem ultimativen Gipfel seines multidrogiden Marathonrauschs, sprich ganz unten angekommen und phasenweise nicht


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